Nataschas Erbsensuppe

(von Jörg Olvermann)
Zutaten: Krieg und Frieden, Zeitgeschichte, Schicksal
Kulturkoloss: „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi

Nataschas ErbsensuppeAm Cadillac Square in Downtown Detroit reiht sich zur Mittagszeit Food Truck an Food Truck. Umsäumt von den Hochhäusern der ehemals glanzvollen Autometropole warten sie geduldig auf die ersten Hungrigen, die gegen halb eins ihre mittelmäßig bezahlten Bürojobs verlassen, um sich ein bisschen frische Luft, einen Pulled Pork Burger oder ein paar fettige Enchiladas zu gönnen.
Natascha wischte sich die Finger an der weißen Spitzenschürze ab, zählte das Wechselgeld und fluchte leise. Warum nur, ähnelten sich diese verdammten Dollarscheine so sehr?
„Come on Natascha, relax!“, sagte Fürst André, zupfte sich die goldene Schärpe über der Zarenuniform zurecht, und winkte eine übergewichtige Passantin heran. Mit ausladender Geste verbeugte er sich und überreichte ihr einen Flyer.
Die zückte ihr Handy, machte mit Fürst André ein Selfie und versprach, in den nächsten Tagen auf jeden Fall vorbeizukommen, denn so einen Food Truck, nein also so einen, den habe sie hier noch nie gesehen.
Natascha beobachtete die beiden, vergaß darüber das Geldzählen und das Fluchen und hielt für einen Moment inne. Hätte man ihr noch vor sieben Monaten gesagt, wo sie heute stünde, sie hätte den- oder diejenige für verrückt erklärt. Für so verrückt, wie sie sich selbst damals gerne hätte erklären lassen wollen, um ihrer Strafe zu entgehen. Aber daraus wurde nichts.

6 Monate ohne Bewährung – wegen Beihilfe zur Brandstiftung im Zusammenhang mit einer politisch motivierten Straftat. Und das alles nur, weil sie Silvio die Garage überließ und, naja, und 50 Kanister Benzin.
Aber das war ihr altes Leben, und davor hatte sie ein ganz altes und davor eins, an das sie sich nur noch erinnern konnte, wenn sie ihr Fotoalbum hervorkramte, eines der wenigen Erinnerungsstücke, das sie nach Detroit mitnahm.
Erst am Vorabend hatte sie mit Fürst Andrés Tochter Caitlin darin geblättert.
Seite 1: Natascha als 8-jährige, auf einer Wiese zwischen blühenden Apfelbäumen. Das war einige Jahre nach ihrer Ankunft in der Soldatenstadt Wünsdorf bei der Berlin.
Seite 2: Natascha als 12-jährige, auf dem Schoß ihrer Großmutter, im Hintergrund die Orden des Großvaters, der im großen Vaterländischen Krieg bis nach Berlin marschierte und der dann so stolz darauf war, dass sein Sohn als General in die DDR entsandt wurde.
Ab Seite 7 änderte sich die Qualität der Bilder. Aus den instagramfiltergleich vergilbten Fotos des Kommunismus wurden beängstigend farbtreue Glanzabzüge der Nachwendezeit.

Die 90er Jahre, das war Nataschas Kriegszeit. Kaum vorbereitet auf das kapitalistische Deutschland sprang sie von Job zu Job, von Lover zu Lover. Anatol, ihr erster Mann, ein Spätaussiedler auf dem Donezk, schlug sie. Ricardo, ihr zweiter, hinterließ 50.000 Mark Schulden und eine Hepatitis B, die nur schwer ausheilte.
Und nach dem Krieg. Kam Silvio. Ihre Liebe zu ihm war so groß wie sein Bizeps, und so breit wie sein selbstsicheres Lachen. Silvio fuhr einen BMW, managte Fitnessstudios und verkaufte Sportnahrung. Fast 15 Jahre lang sah es so aus, als hätte Natascha das Glück gefunden. Sie waren mehr als ein Paar. Sie waren ein Team. Wenn die beiden nicht gemeinsam im Fitnessstudio waren, dann saßen sie in Nataschas Küche und tüftelten an neuen Kochrezepten für Leistungssportler. Und wenn Silvio nach stundenlangem Rühren, Kochen und Probieren genug hatte, dann holte er eine Konserve aus der kleinen Speisekammer und sagte zu Natascha:
„Proteine hin oder her, die beste Nahrung für einen Sportler ist und bleibt immer noch Erbsensuppe mit Schweinebauch.“
Es war so friedlich zwischen ihnen. Warum ist es einfach nicht so geblieben?

Dann stand plötzlich die Staatsanwältin auf und stach mit dem schwarzen Kugelschreiber in Nataschas Richtung:
„Sie, Frau Rostova, Sie haben durch Ihr Handeln in besonderer Weise dazu beigetragen, dass Menschen, die in unserem Land Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, lebensgefährlich verletzt wurden. Es ist bewiesen, dass sie im Auftrag ihres Lebenspartners Silvio Zeller 500 Liter Benzin in kleinen Rationen beschafften und in ihrer Garage für ihn lagerten. Sie haben Herrn Zeller auch eine alte NVA-Feldküche zur Verfügung gestellt, und das, obwohl sie gewusst haben mussten, dass Herr Zeller das Benzin in der Feldküche erhitzen würde, um es im Eingangsbereich der Erstaufnahmeeinrichtung an der Käthe-Kollwitz-Straße zu entzünden. Dass in den Etagen darüber bereits 35 Personen wohnten, dürften sie ebenfalls gewusst haben. Und sie wussten natürlich auch, dass Herr Zeller in der rechtsextremen Szene kein Unbekannter ist. Sie selbst haben ihn nach Zeugenaussagen immer wieder zu den Pegida-Demonstrationen nach Dresden begleitet.“ Natascha weinte. Ja, sie wusste es. Aber gleichzeitig wusste sie es auch nicht. Silvio hatte nie direkt über seine Pläne gesprochen. Er sagte nur: „Ich verteidige mein Vaterland, so wie es mein und dein Großvater getan haben.“ Natascha fand daran irgendwie nichts Schlechtes.

Am Tag ihrer Entlassung aus dem Gefängnis flog Natascha mit der ersten freien Maschine nach Moskau. Da saß sie nun, bei Tante Irina im 12. Stock eines Sowjetneubaus. Tante Irina goss Tee ein. Ihre Hände zitterten. Sie vergoss die Hälfte auf den Tisch.
„Was ist Tantchen, bist du nervös?“, fragte Natascha. „Hast du etwa Angst vor mir, weil ich im Gefängnis war? Es war eine dumme Sache, ich weiß. Ich habe meine Strafe abgesessen. Ich werde hier in Moskau ein neues Leben anfangen.“
„Hier in Moskau?“, Irina riss die ungläubig die Arme hoch, „Siehst du nicht, wie schlecht es uns allen geht? Es gibt kaum Arbeit, alles wird teurer. Wovon willst du leben?“
Natascha wischte mit einer roten Papierserviette den ausgegossenen Tee von der Tischplatte und ging schweigend in die Küche.
Tante Irina folgte ihr und legte die Arme um sie.
„Du hast ja Recht, Natascha. Ich bin aufgeregt. Aber nicht wegen dir, sondern wegen Fürst André.“
Natascha löste sich aus der Umarmung und drehte sich mit großen Augen zu Irina um. Irina lachte:
„Ja, meine Kleine, Fürst André ist in Moskau und als ich ihm sagte, dass du hierher kommst, da hat er sich sofort ins Auto gesetzt. So der Moskauer Verkehr will, ist er in einer halben Stunde hier!“
Fürst André war ein Cousin zweiten Grades und Nataschas große Jugendliebe. Sie lernten sich in der Soldatenstadt Wünsdorf kennen, als André dort einen Sommer bei den Rostovs verbrachte. All die Jahre hatte Natascha, wenn sie an ihn dachte, noch den Duft der Lindenbäume in der Nase, die in jener Sommernacht blühten, als sie sich hinter dem Offizierskasino zum ersten und einzigen mal liebten.
„Ach, Fürst André“, sagte Natascha betont ungerührt, „ich dachte der lebt jetzt in Chicago“.
„Detroit, mein Schatz, er lebt in Detroit,“ sagte Irina. „Er ist nur für ein paar Tage hier -geschäftlich. Er hat einen florierenden Handel mit alten Zarenuniformen aufgebaut, musst du wissen. Nur schade, dass er schon Witwer ist. Seine Frau hat sich wahrlich tot gefressen. Eine dicke Amerikanerin, die jeden Tag kiloweise Schokolade und süße Limonade in sich reingestopft hat. Über 250 Kilo soll sie am Schluss gewogen … Mit einem Kran haben sie die Leiche… Die Beerdigung musste ein Tierbestatter, einer der sonst mit Nilpferdleichen und so was… Also nein, Natascha, das kannst du dir nicht vorstellen.“
Natascha schaute prüfend an ihrem Körper herab. 54 war sie nun. Auch im Gefängnis hatte sie ihr Fitnessprogramm eisern durchgezogen. Ihr Körper war so ziemlich das einzige, worauf sie stolz war.

Als Fürst André in Irinas Wohnung trat, füllte seine Statur den ganzen Türrahmen aus. Verborgen in seinem dichten, mattgrauen Rauschebart erkannte Natascha sinnliche Lippen und Andrés zartgrüne Augen zeigten immer noch diese Mischung aus Sanftheit und Stärke, in die sich Natascha damals verliebt hatte.
Beide setzen sich an niedrigen Wohnzimmertisch. Tante Irina lief in die Küche.
„Unterhaltet euch“, sagte sie, „ihr habt euch ja so lange nicht gesehen.“
Aber Fürst André und Natascha sprachen kein Wort. Sie schauten sich nur in die Augen. Dabei war nicht zu erkennen, ob es peinlich leere oder unendlich bedeutungsschwangere Blicke waren, die beide austauschten.
Irgendwann, endlich, brach Fürst André das Schweigen:
„Weißt du, Natascha,“ sagte er, „ich könnte dich jetzt fragen, wie es dir in Deutschland in all den Jahren erging, warum du im Gefängnis warst und was du jetzt in Moskau vorhast. Und du könntest mich fragen, wie es mir in Detroit geht, wie ich über den Tod meiner Frau hinweggekommen bin und wie meine Geschäfte laufen. Wir könnten auch über unseren Sommer in Deutschland sprechen, über die Nacht hinter dem Offizierskasino und warum wir uns danach aus den Augen verloren haben. Liebe Natascha, wir könnten über so vieles reden, was das Leben uns Gutes und Schlechtes beschert hat. Aber weißt du, das ist alles wertlos. Denn immer gibt es irgendwo einen Krieg und irgendwo endet einer. In meinem Leben, in deinem, in dem Leben von 7 Milliarden Menschen gibt es so viel Elend und so viel Glück zur gleichen Zeit.“
Er nahm Nataschas Hand: „Ich halte es da lieber mit Tolstoi: Das Schwierigste, aber das Wichtigste ist, das Leben an sich zu lieben, auch wenn wir leiden. Denn das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Und das Leben zu lieben bedeutet, Gott zu lieben. Und deshalb frage ich dich, Natascha: Liebst du das Leben?“
Bevor Natascha antworten konnte, platzte Irina mit einer dampfenden Schüssel herein.
„Entschuldigt, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie und füllte die tiefen Teller randvoll mit Pelmeni.

Die drei aßen schnell und viel. Dabei führte Irina einen nervösen und belanglosen Monolog über Putin, Obama und wie der Westen und die Moslems die russische Kultur zerstörten. Fürst André verabschiedete sich bald, sagte, er würde in einem nahe gelegenen Hotel übernachten und am Morgen zum Frühstück noch einmal wiederkommen. Nachdem er fort war, gingen Natascha und Irina ins Bett. Die Pelmeni lagen schwer im Magen.

In dieser Nacht hatte Natascha einen merkwürdigen Traum. Sie würde Fürst André nach Detroit folgen. Sie würde dort Erbsensuppe mit Schweinebauch in der alten NVA-Feldküche aufwärmen und an übergewichtige Amerikaner verkaufen. Fürst André würde in einer Zarenuniform neben der Feldküche stehen und Werbezettel verteilen. Sie wären glücklich. Und alles, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hatte, würde einen Sinn ergeben.
Natascha wachte auf. Sie schlug die viel zu warme Bettdecke zurück und ging ans Fenster. Hinter den rauchenden Schornsteinen konnte sie die hellen Lichter Moskaus sehen. „Ja, ich liebe das Leben“ sagte sie und lachte.

Jörg Olvermann
Jörg Olvermann, Jahrgang 1971, zog mit 21 Jahren nach Berlin, studierte an der UdK und arbeitet als Berater, Konzepter für Digitale Medien.