Der Schwimmer

(von Ricarda Brücke)

Kate Bush – Hounds of Love

Oh, here I go!
Don’t let me go!
Hold me down!
It’s coming for me through the trees.
Help me, darling,
Help me, please!

Das Fünfzig-Meter-Becken lag vor ihr im sommerlichen Morgenlicht. Das türkisblaue Leuchten und der Chlorgeruch begrüßten sie verheißungsvoll. Um diese Zeit waren außer ihr nur ein paar Rentner im Freibad, die frühe Stunde auskostend, bevor der Mob der Ferienkinder einfiel. Links im Becken schwammen die zwei Frauen mit den turbanartigen Badekappen, rot und weiß, so wie die Pommes am Kiosk. Es gab keine Badekappenpflicht, aber vermutlich war das Gewohnheitssache. Einmal Badekappe, immer Badekappe. Lara selbst, die nun einen Zeh ins Wasser steckte, um die Temperatur zu prüfen, hasste es, wenn sie beim Schulschwimmen im Hallenbad gezwungen wurde, so ein Ding aufzusetzen. Dass man unmöglich damit aussah, konnte man noch verkraften, aber es verhinderte den direkten Kontakt zum Wasser und erzeugte das Gefühl, der Kopf würde nicht zum Rest des Körpers gehören. Auf der Bahn ganz rechts außen befand sich, wie immer, der alte Mann mit dem buschigen weißen Schnurrbart. Sie hatten begonnen sich zu grüßen, nachdem klar war, dass Lara während der Sommerferien jetzt auch jeden Tag hier herkam. Außer dem Bademeister, der in seiner weißen Kabine am Beckenrand saß und Zeitung las, war sonst niemand da. Lara hatte also reichlich Platz in der Mitte des Schwimmbeckens. Sie stieg auf den Startblock und machte einen Köpper. Die Kälte traf sie wie ein Schlag und brachte ihre Nerven zum Schreien. Sie begann zu kraulen, wechselte jedoch nach zwei Bahnen zu Brust. Hier konnte sie ihren Rhythmus besser halten und lange, kraftvolle Züge machen. Der Mann mit dem buschigen Schnurrbart, der wie der eines Walrosses im Wasser hing, kam ihr entgegen. Er schnaubte zum Gruß. Seine Augen lächelten. Lara lächelte zurück, mit dem Mund, bevor dieser im Zuge der Vorwärtsbewegung der Arme wieder unter Wasser verschwand. Sie schwamm neunzehn Bahnen. Am Ende von Bahn zwanzig angelangt, stieß sie sich rücklings vom Beckenrand ab, um die Kühle des Wassers am Hinterkopf zu spüren: „Ah!“ Hübsche kleine weiße Wolken hingen am Himmel über ihr. Rückenschwimmen war noch weniger ihr Ding als Kraulen. Nachher würde die sportliche Frau mit der dünnen, arztgrünen Gummibadekappe kommen, die die ganze Zeit nur Rücken schwamm. Lara erreichte nicht annähernd ihre Grazie.

Als sie sich zurück auf den Bauch drehte, befand Lara sich schon nah am Beckenrand. Über sich nahm sie einen Schatten wahr und als sie nach oben blickte, sah sie gerade noch behaarte Unterschenkel und zwei große Füße an sich vorbeifliegen. Sie drehte sich um. Dunkles Haar und das blaue Band einer Schwimmbrille. Lara kam jetzt seit zwei Wochen hier her und kannte die meisten Leute, die vormittags zum Schwimmen da waren. Dieser war neu. Was machte ein junger Typ hier um diese Zeit und dann auch noch auf ihrer Bahn? Wo es doch mehr als genügend Platz gab. Sie wurde wütend. Diese Kerle mit ihrer Angebermasche konnte sie nicht ab. Neben den Ferienkindern waren sie der Grund, warum Lara nicht mehr nachmittags hierher kam. Die Typen stürzten sich draufgängerisch ins Wasser, schwammen zwei Bahnen in einem Affentempo ohne Rücksicht auf Verluste und meinten damit ihre immense Sportlichkeit unter Beweis zu stellen. Dann hingen sie am Beckenrand rum um zu schauen, welches Mädchen sie mit ihrer Vorstellung beeindruckt hatten. Es war einfach nur lächerlich! Der Typ hatte bereits gewendet und kam auf sie zu. Gut, das einzig Vernünftige in einem solchen Fall war: ignorieren. Sie wanderte am Beckenrand eine Bahn nach links und begann wieder zu schwimmen. Noch fünf Bahnen. Sie konzentrierte sich vollständig auf die Bewegung und das Dahingleiten im Wasser. Als sie ihr Pensum erfüllt hatte und mit der Hand nach dem Beckenrand griff, sah sie wie der Kerl neben ihr eine Kehrtwende vollführte und mit langsamen, regelmäßigen Kraulschlägen davonschwamm. Lara hangelte sich hinüber zur Leiter und stieg aus dem Wasser. Ihre Beine waren schwer und fühlten sich an wie Gummi.

Am nächsten Tag hing eine dichte Wolkendecke am Himmel und es war drückend warm. Lara stellte ihre Tasche hinter einer Hecke ab, zog T-Shirt und Shorts aus und machte sich auf den Weg zum Becken. Dort angekommen, musste sie lächeln. Pommes rot-weiß links, Walross rechts. Sie fühlte das Wasser, ließ etwas davon über ihren Körper laufen und sprang. Sie war noch nicht einmal fünf Minuten geschwommen, da überholte sie jemand mit schnellen Kraulzügen. Dunkle Haare und blaue Schwimmbrille. Als er am Beckenrand Pause machte, um sich das Haar nach hinten zu streifen, sah sie breite Schultern und Teile seines Oberkörpers aus dem Wasser ragen. Lara schätzte, dass er in etwa im Alter ihres Bruders sein musste. Bestimmt ein Student, der Semesterferien hatte. Christian war am Wochenende nach Brasilien geflogen, für zwei Monate, und das war nicht mal die volle Zeit seiner Ferien. Lara fand das irre. Warum konnte sie nicht schon studieren? Drei Jahre noch bis zum Abitur. Drei lange Jahre und Sommerferien, die zu kurz waren, um die Leiden des Schuljahres aufzuwiegen. Und auch während dieser sechs Wochen kam sie nicht raus. Ihre Mutter konnte sich keinen Urlaub leisten und war außerdem zu krank, um wegzufahren. Und Lara konnte keinen Ferienjob annehmen, weil sie ihre Mutter nicht so lange allein lassen durfte. Das einzige, was blieb, war diese eine Stunde im Schwimmbad jeden Morgen.

Der Schwimmer kam ihr entgegen. Da waren die leeren Klötze der Schwimmbrille und das Gefühl, dass sie aus der dunkelblauen Tiefe heraus etwas anstarrte. Ihr Gesicht wurde heiß. Hatte sie ihn etwa zu auffällig beobachtet? Er dachte doch jetzt wohl nicht, dass sie auf ihn stehen würde, oder so? Sie blickte nach vorn. Einfach weiter schwimmen, gar nicht beachten. Sie überlegte, ob sie die Bahn wechseln sollte. Nein, das war zu auffällig. Und auch ein wenig kindisch. Wahrscheinlich hatte er sie gar nicht angeschaut. Als er wieder auf ihrer Höhe war, kam sein Kopf zum Ausatmen aus dem Wasser. Sie sah seinen geöffneten Mund. Es hatte etwas Gieriges, wie er nach Luft schnappte. Plötzlich streifte etwas ihren Oberschenkel. Ein Schauer durchlief sie. Er schwamm weiter, so als sei nichts passiert, genauso ruhig und gleichmäßig wie zuvor. Lara brauchte eine ganze Bahn, um sich zu beruhigen. Viel zu schnell kam der Schwimmer wieder auf sie zu. Als er etwa drei Meter von ihr entfernt war, tauchte er unter. Sie sah ihn in einem Abstand von zwei Metern unter sich vorbei gleiten. Lara fühlte seine Blicke auf ihrem Körper. Oh mein Gott, er checkte ihre Figur ab! Sie musste raus aus dem Wasser. Sie steuerte die nächstgelegen Leiter an und stieg empor. Als sie sich noch einmal kurz umdrehte, sah sie den Schwimmer am Beckenrand, den Kopf in ihre Richtung gewandt. Schnell ging sie zum Duschbecken. Hier war das Wasser noch kälter und löschte für einen Moment den Eindruck, den der Schwimmer auf sie gemacht hatte. Sie holte ihre Sachen und verschwand damit in einer Kabine. Ihr fiel auf, dass sie Gänsehaut hatte. Lara zog den nassen Badeanzug aus und griff nach ihrem Handtuch. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel, der an der Kabinentür angebracht war. Was sie sah, gefiel ihr nicht besonders. Die breite Hüfte, die kräftigen Oberschenkel und die kleinen Brüste. Sie blickte schnell wieder weg. Als sie sich angezogen hatte, hörte sie in knapper Entfernung eine Frau schreien. Lara packte ihre Sachen zusammen und ging hinaus, um nachzusehen, was passiert war. Die ältere Dame mit der roten Badekappe saß auf einer Bank, neben ihr die Freundin, kniend auf dem Boden vor ihr, ihren Fuß in der Hand haltend, der Bademeister. Die Frau war von einer Wespe gestochen worden. Laras Mutter hatte sie gewarnt, dass sich hier Wespen im Gras versteckten, sie solle nie barfuß über den Schwimmbadrasen laufen. Genau das hatte sie eben getan. Es hätte ebenso ihr passieren können. Walross kam, Wasser triefend, vom Becken und gesellte sich zu der Versammlung. Er zwinkerte Lara zu und wandte sich mit einem guten Ratschlag an das Wespenopfer. Lara konnte sehen, dass auch der junge Mann auf den Schrei hin das Becken verlassen hatte und nun aus der Entfernung herüberblickte. Ihr fiel auf wie groß er war, bestimmt ein Meter neunzig. In diesem Moment kam, zum ersten Mal an diesem Morgen, die Sonne hinter den Wolken hervor und schien auf seinen Körper: die muskulösen Arme, die schmalen Hüften. Er trug eine blaue, enge Badehose. Lara drehte sich um und ging zum Ausgang.

Am darauffolgenden Morgen hatte ein frischer Wind die Schwüle des Vortags vertrieben. Graue Wolken rasten am Himmel entlang und der Wind zerrte an den Bäumen. Ihre Mutter hatte sie fragend angeschaut, als Lara gesagt hatte, dass sie jetzt Schwimmen fuhr: „Dich kann wohl nichts aufhalten, was?“ Als Lara ihr Fahrrad unter den Pappeln vor dem Schwimmbad abstellte, war sie für einen Augenblick gefangen in deren Rauschen. Sie schloss die Augen und sah die tosenden Wellen des Ozeans vor sich. Das Getöse trug sie empor. Sie öffnete die Augen, griff nach ihrer Tasche im Gepäckträger und machte sich auf den Weg zum Eingang. Als sie zum Becken kam, schwamm dort nur Walross auf seiner angestammten Bahn. Pommes rot-weiß gönnten sich wohl eine bienenstichbedingte Auszeit. Lara nahm auf dem Startblock an der Beckenmitte Platz und hielt ihre Füße ins Wasser. Heute erschien es ihr geradezu warm. Walross, der sie entdeckt hatte, hob eine Hand und rief zu ihr rüber „Nur wir zwei, der harte Kern, was? Von so ’m bisschen Wind lassen wir uns doch nicht beeindrucken, oder?“ „Nein!“, rief Lara zurück. Der Bademeister in seiner Kabine warf ihnen einen entnervten Blick zu. Wahrscheinlich hätte er den Laden für heute lieber dicht gemacht. Lara ließ sich vom Startblock sachte ins Wasser gleiten. Sie stellte fest, dass sie sich leichter fühlte als sonst, das Wasser schien weicher zu sein und sie besser zu tragen. Das war seltsam. Diese sanfte Ruhe unterhalb der Wasseroberfläche, während oberhalb Aufruhr herrschte. Sie genoss das Dahingleiten im Wasser noch mehr als sonst. Als sie eine Weile geschwommen war, ertappte sie sich bei einem Blick auf die große Uhr oberhalb des Kiosks und dem Gedanken an ihn. Die Minuten vergingen. Sie hatte schon nicht mehr mit ihm gerechnet, als sie hinter sich das Geräusch aufspritzenden Wassers hörte. Einige Sekunden später überholte er sie mit seinen gemessenen Kraulzügen.

Als sie am Beckenrand ankam und sich umdrehte, befand sich der Schwimmer schon am anderen Ende. Während sie sich nun auf ihn zu bewegte, rührte er sich nicht von der Stelle. Er stand auf dem Absatz und schien zu warten. Sie schaute sich nach Walross um, aber der war verschwunden. Wie konnte der denn so urplötzlich weg sein? Sie schaute zum Bademeister. Auch der war nicht an seinem Platz. Sie waren allein. Als sie am Beckenrand ankam, setzte sich der Schwimmer in Bewegung. Wieder dieser Blick aus dunkelblauen Klötzen, diesmal ganz nah. Er hatte eine große Nase, mit einem breiten Nasenbein und volle, weiche Lippen. Lara hielt sich an der Wand fest, blickte nach unten und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Waren das Regentropfen, die sie auf ihrem Gesicht spürte? Sie stieß sich mit beiden Beinen ab und ließ sich auf dem Rücken liegend treiben. Am Himmel türmten sich dunkle Wolkenberge. Ihr war, als würde sie ein fernes Grollen vernehmen. Noch eine Bahn und sie hatte ihr Pensum für heute erfüllt. Die wollte sie auf dem Rücken schwimmen. Nach einigen Metern traf sie mit dem Kopf auf einen Widerstand. Ihre Beine sanken herab. Sie spürte eine gleitende Bewegung an ihrem Rücken; ihr Körper am Körper eines anderen. Sie begann wild zu strampeln. Arme umschlossen ihre Taille. Die Arme zogen sie zurück an den Rand. Der Schwimmer setzte die Schwimmbrille ab und Lara blickte in zwei blaue Augen, klar wie eine karibische Lagune. Er grinste: „Du weißt schon, dass diejenigen, die in Panik geraten, als erste untergehen, oder?“ Sie schaute ihn nur an. Er umschloss ihre Taille fester. Es fing an wie aus Kübeln zu regnen.