Im Schacht

(von Judith H. Strohm)

Apfelbaum gab das Rufen auf, zumindest für den Moment. Später würde er es noch einmal versuchen, aber jetzt fürchtete er, dass er gleich heiser würde, wenn er seine Stimme weiter entlang der gemauerten Wände Richtung Himmel schickte.

Fünfzehn Meter war der Schacht wohl tief, vielleicht sogar zwanzig, aus rotbraunem Ziegelstein gemauert. Vor hundert oder hundertfünfzig Jahren gebaut, schätzte Apfelbaum. Es war kühl dort unten, es roch ein wenig nach vermoderten Blättern und Lehm und so vermutete Apfelbaum, dass der Schacht wohl tief in die Erde reichte, vielleicht ein ehemaliger Brunnen.

Apfelbaum hatte keine Ahnung, wie er hier hineingeraten war. Das letzte, woran er sich erinnerte war, dass er sich auf dem grünen Sofa in seinem Wohnzimmer zum Mittagsschlaf hingelegt hatte, so, wie er es an jedem Sonntagnachmittag tat. Nur dass er nicht auf seinem bequemen Sofa aufgewacht war, sondern in diesem gemauerten Schacht, über dem die Sonne gerade günstig stand und ihn wärmte.

Apfelbaum setzte sich auf den trockenen Schachtboden und betrachtete die Asseln und Käfer, die auf den Ziegelsteinen an den Wänden herumkrabbelten und in den Ritzen verschwanden. Was um alles in der Welt hatte ihn hierhin verschlagen?

Mit einem Satz sprang Apfelbaum auf. Wenn er hier unten nicht elendig verdursten wollte, musste er schleunigst einen Weg nach draußen finden. Er begann, die Wände nach einem Vorsprung abzutasten, irgendetwas, das ihm Halt geben, an dem er sich Richtung Himmel ziehen konnte. Doch wo er auch fühlte und tastete, es gab nichts anderes als glatte Ziegel und Mörtel dazwischen. Kein Halt, nirgends.

Noch einmal begann Apfelbaum zu rufen: „Hilfe! – Ich bin hier unten! – Kommen Sie hierher! – Retten Sie mich!“ Alleine – so laut er auch rief, sein Flehen blieb ohne Antwort.

Apfelbaum wurde wütend. Er begann gegen die Wand zu treten, bis seine Zehen schmerzten und gegen die Ziegelsteine zu schlagen und zu boxen, bis seine Hände von blutigen Rissen überzogen waren. Erschöpft setzte er sich wieder auf den Boden und weinte. Bis zum Abend beobachtete er teilnahmslos die Asseln und Käfer, die die Mörtelfugen offenbar den Steinen vorzogen, er folgte den Schatten, die über die Mauer wanderten und schlief schließlich ein, den Kopf auf die an den Körper gezogenen Knie gelegt.

Am nächsten Morgen erwachte er mit steifem Nacken und drehte den Kopf so lange in alle Richtungen, bis er den Blick wieder bis ganz nach oben richten konnte, dorthin, wo zarte Wolken über den blassblauen Himmel wanderten. Wieder verbrachte er eine Weile mit Rufen, wieder war es ergebnislos. Irgendetwas musste er sich einfallen lassen, die Zeit drängte.

Doch zu seiner Überraschung stelle Apfelbaum fest, dass er weder Hunger noch Durst verspürte. Er fühlte sich vielmehr so, als hätte er eben erst die Frikadellen, das Kartoffelpüree und die gemischten Erbsen und Möhren verspeist, sein Lieblingsgericht, das er gerne Sonntags aß, bevor er sich auf dem grünen Sofa zum Mittagsschlaf legte.

Apfelbaum betrachtete weiter die Insekten an der Wand, irgendwoher tauchte eine Spinne auf. Doch vor allem war es eine Maus, die ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Ohne ihn weiter zu beachten, lief sie von rechts nach links an ihm vorbei, hielt zwischendurch kurz inne, schnupperte und verschwand dann in einem Loch zwischen zwei Mauersteinen. Als Apfelbaum bemerkte, dass seine angeschlagenen Hände viel schneller als üblich geheilt waren und dass die Maus auch an den folgenden Tagen exakt so wie beim ersten Mal von rechts nach links an ihm vorbeilief, kam ihm allmählich der Gedanke, dass er nicht bereits tagelang hier unten saß, sondern den gleichen Tag immer und immer wieder erlebte. Jedes Mal, wenn er erwachte, hatte er also erst kurz zuvor Frikadellen, Kartoffelpüree sowie Erbsen und Möhren gegessen, und diese Tatsache beruhigte Apfelbaum sehr.

Um seine These zu überprüfen beobachtete er die Asseln und Käfer genau, gab ihnen Namen, ebenso benannte er die Mörtelfugen, auf denen sie wanderten und nach wenigen Tagen sagte er nur Sekunden bevor eine Assel vorbeilief voraus: „Nun läuft Egbert die Brunnengasse entlang bis zur Mäuseallee, biegt dort nach rechts und verschwindet schließlich in einem Hauseingang auf der Käferstraße.“ Als Apfelbaum die Vorgänge dann genauso beobachtete, klatschte er begeistert in die Hände.

Es folgten Tage der intensiven Beschäftigung. Apfelbaum beobachtete jetzt nicht mehr nur das Geschehen am Grunde des Schachtes, irgendwann hatte er allen dort sichtbaren Lebewesen Namen gegeben. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit auch zu diesem kleinen, weit entfernten Himmelsfenster. Auch den vorbeiziehenden Wolkenformationen gab er Namen – ein Schaf, Frankreich, eine Banane – und bezog sie in seine Vorhersagen mit ein: „Egbert wird von der Brunnengasse zur Mäuseallee laufen, während oben das sechseckige Frankreich vorüberzieht.“

Auf Tage der begeisterten Beschäftigung folgten Tage des resignierten Nichtstuns. Manchmal rollte er sich einfach nur am Boden des Schachtes zusammen und dämmerte der nächsten Nacht entgegen.

Eines Tages, Apfelbaum lag schon seit Stunden auf dem Rücken und betrachtete den Himmel, entdeckte er dort oben, sehr weit entfernt einen Vogel und war plötzlich sehr aufgeregt.

Wie lange saß er nun schon hier unten? Hatte sich der Tag schon zwanzig Mal oder gar dreißig Mal wiederholt? Wie hatte er diesen großen Vogel, vermutlich war es eine Wildgans, bislang nicht entdecken können? Oder hieß das etwa, dass sich nun etwas ändern würde, dass es nicht mehr derselbe, sondern ein anderer, ein neuer Tag war? Apfelbaum schöpfte Hoffnung. Doch am nächsten Tag musste er feststellen, dass die Wildgans wieder vorbeiflog und wohl schon immer zu dem Wolkenbild Birne dazugehört hatte. Er hatte sie bisher einfach übersehen.

Dennoch verfing sich das Bild der Gans, die mit kräftigen Flügelschlägen durch das Himmelsfenster flog, in Apfelbaums Gedanken.

„So wie diese Gans“, dachte Apfelbaum, „genauso müsste ich fliegen können.“ Doch sofort wischte er diesen absurden Gedanken beiseite. Eigentlich neigte er nicht zu solch lächerlichen Ideen.

„Menschen, die fliegen“, dachte Apfelbaum, „was für ein Quatsch!“

Und doch ließ ihn diese Idee nicht mehr los.

„Können Mäuse fliegen?“, fragte er die Maus, als sie an diesem Tag pünktlich wie immer von rechts nach links lief und ihn wie üblich keines Blickes würdigte.

Noch mehrmals suchte er die Wände nach Klettermöglichkeiten ab. Tagelang verbrachte er damit, um Hilfe zu rufen, zu flehen, zu betteln. Doch auch wenn seine Stimme stetig kräftiger wurde und sein Rufen immer lauter, so blieb es doch weiterhin offensichtlich ungehört.

Und irgendwann, Apfelbaum konnte nicht sagen, ob es einen konkreten Anlass gab, irgendwann, dachte er, dass er sich diesen absurden Gedanken ans Fliegen, wohl doch zugestehen musste, wenn er jemals wieder hier herauskommen wollte. Und so begann Apfelbaum, sich das Fliegen vorzustellen. Apfelbaum überlegte, wie er seine Arme großen Schwingen gleich zu beiden Seiten des Körpers auffalten, wie er damit in der Luft rudern und tatsächlich so etwas wie Halt finden würde. Er stellte sich vor, wie er mit nur wenigen Armschlägen die Schachtmauern empor und dem Himmel entgegenfliegen würde und träumte davon, wie eine warme Brise ihn weit weg trug.

Tagsüber stand Apfelbaum jetzt am Grund des Schachtes und übte die Bewegungen. Was ihm zunächst lächerlich, um nicht zu sagen wahnsinnig vorkam, entwickelte sich zu einem gewissenhaften Training. Die wenigen Minuten, in denen die Gans am Himmelsfenster vorbeizog, wurden zu den wichtigsten des Tages. Apfelbaum versuchte, immer neue Details ihrer Bewegungen zu erkennen und diese in sein Übungsprogramm zu übernehmen. Und je mehr er übte, desto mehr glaubte Apfelbaum schließlich, dass er es eines Tages schaffen, dass er wirklich aus diesem Schacht hinausfliegen würde.

„Ich kann fliegen“, sagte er irgendwann voller Überzeugung zu sich selbst und schlief sehr zufrieden ein.