Hamstern gehen in der Pfalz

(von Judith H. Strohm)

 

Diese Dame? Die fasziniert dich wohl? Aber ja, kann ich mich erinnern, sehr gut erinnern sogar – an diese Dame im Spätsommer ’48 – als wäre es gestern gewesen.

Aber was gestern war… Ach, Kind.

 

Also gut.

Die Dame jedenfalls. Sie stieg vom Kutschbock hinunter und es war deutlich: Das ist sonst nicht ihr Platz.

Selbst den Knecht haben sie eingezogen. Und jetzt ist er wohl in Gefangenschaft, sagte sie zur Begrüßung und so, als müsste sie sich für irgendetwas entschuldigen.

 

Mein Sepp, den Opa meine ich, mein Sepp also war da auch noch nicht zurück. Sollte erst im nächsten Frühjahr kommen. An einem Donnerstag stand er da, so plötzlich, mit eingefallenen Wangen und stumpfen Augen. Sauerkrautsuppe hätten sie gehabt, nichts als Sauerkrautsuppe dünn wie Wasser, in diesem Lager in Rumänien.

 

Ein Bauer hatte jedenfalls ein Schwein gebracht, und der Vater war ja Metzger und hat es schwarz geschlachtet, gab es nicht bei den Behörden an. Die hätten es ja auf kleine Portionen aufgeteilt, solche Päckchen, eingeschlagen in Fettpapier, und gegen Lebensmittelmarken abgegeben. So wenig bekam man für eine Marke, konnte man kaum eine Suppe von kochen. Mein Vater hat schwarz geschlachtet und aus dem Schwein Schinken gemacht und auch Würste. Mit dem Adoli, meinem jüngsten Bruder, wollte ich also hamstern gehen, das heißt, die Sachen eintauschen gegen das, was wir fanden. Zusätzlich hat der Vater uns einen Korb mit Möhren und Kohlrabi hinter den Kutschbock gestellt und gesagt, man weiß ja nie, was heute die Währung ist.

Bringt mir dafür was Gutes, sagte er und versuchte dabei zu lachen. Ich dachte nur: Ja, was Gutes, hoffentlich. Und was, wenn nicht? Daran wollte ich gar nicht denken.

Als das Wetter gut war, fuhren wir los. Das Pferd vom Vater ging gut, auch wenn es damals nicht viel Futter bekam – wie wir alle.

 

Auf lagen überall noch die Trümmer. Saarbrücken war praktisch zerstört, und im Wnter ’44/ ’45 hatte es auch auf Neunkirchen und Homburg Bomben geregnet. Irgendwann war der Räumungsbefehl gekommen. Auch wir waren zuerst im Bunker, aber dann doch evakuiert.

Wir fuhren entlang der Straßen, alles kriegsversehrt, links und rechts die Ruinen, in denen aber schon wieder Leben war, sogar Säuglinge hörte man schreien.

Deine Mutter kam ja dann auch ganz schnell, als mein Sepp endlich wieder daheim und bei Kräften war.

 

Damals waren wir praktisch Kolonie oder französisches Protektorat. Und wir, ich kann es nicht genau sagen, irgendwie, ja, waren wir damals französisch, auch wenn wir nicht wirklich Franzosen waren. Aber auch wenn wir zu Frankreich gehörten, war dort nichts zu holen. Die hungerten doch selbst. Außerdem mochten sie die Deutschen nicht.

Zu Frankreich hin war der Schlagbaum weg, aber zur Pfalz hin gab es jetzt jedenfalls eine Grenze. Der Schlagbaum ging hoch bis abends um sechs und dann erst wieder am nächsten Morgen. Die Zöllner dösten im Schatten des Zollhauses und winkten uns durch. Heraus ging es immer leicht. Nur hinein bringen durfte man nicht alles, hinein ins Saargebiet, wie das damals hieß.

 

Natürlich fuhren wir zum Hamstern in die Pfalz. Der Adoli hatte gehört, dass die Tabakbauern geerntet hatten, zum ersten Mal nach dem Krieg. Tabak war beim Hamstern die beste Währung. Wir hatten doch alle kein Geld. Und jedenfalls gab es nichts mehr für Geld. Und satt wird man von Geld sowieso nicht.

 

In einem Dorf hatten wir den Schinken gegen ein Paar Schuhe getauscht, neuwertig waren die, schwarz und glänzend. Hoffentlich waren sie gut für den Vater, denn wenn nicht.

Am Mittag waren wir dann mit der Dame verabredet. An einer Wallfahrtskapelle, St. Pirmin. Nie zuvor bin ich dort gewesen, und ich wüsste auch nicht, dass ich später nochmal da war. Ihre Kutsche stand unter einer Linde und sie glitt also vom Kutschbock hinunter. Noch nie hatte ich eine solche Dame gesehen. Ich erinnere mich an ihre schlanke Taille, als würde sie ein Mieder tragen und ihr feines Gesicht. Und an diese Handschuhe, bestes Ziegenleder. Dass sie von einem Gut kam, glaubte ich sofort. Herrschaftlich sah sie jedenfalls aus, noch kein graues Haar. Ich dagegen: Wie eine Bäuerin, das Kleid aus so derbem Vorhangstoff, an den Füßen alte Männerschuhe. Die Dinge mussten solide sein. Geschafft haben wir viel damals, und nichts war zu schwer für uns Frauen. Die Männer waren ja noch weg. Der Vater war als erster aus dem Osten zurück. Nur der Adoli war uns als einziger die ganze Zeit über geblieben, weil er gerade so noch zu jung war für die Flak.

 

Die Dame jedenfalls erzählte von dem Knecht, den die Deutschen eingezogen hätten und von den Amerikanern, die sich jetzt im Gutshof ausbreiteten.

Glücklicherweise muss mein Vater das nicht mehr erleben, Gott hab ihn selig, hat sie gesagt und sich bekreuzigt.

Der Adoli war unruhig.

Und? Gibt es jetzt Tabak oder nicht?, sagte der Adoli irgendwann.

Er war ein Heißsporn, immer ungeduldig.

Die Dame lächelte. Sie knöpfte den Mantel auf und zog ein flaches Paket heraus. Man sah nur verschnürten Stoff. Aber dann zog sie an der Kordel und die goldbraun getrockneten Tabakblätter lagen da mit dünnen Adern wie Blutbahnen.

Es ist nicht ganz die Vorkriegsqualität, sagte sie. Da war sie ehrlich. Aber sie wäre mit der Ernte zufrieden.

Ich bot geräucherte Würste an.

Der Adoli scharrte mit dem Schuh im Sand, dass es staubte, und ich zischte nur. Zscht! Zschscht!

Und sie fragte doch tatsächlich nach Gemüse! Ich meine, das muss man sich mal vorstellen! Ich meine, ich hatte mir vorgestellt, dass da, wo Tabak wuchs, auch anderes angebaut wurde. Ich überlegte sofort, dass wenn sie also Gemüse wollte, ich ihr sicher die Karotten lassen müsste oder wenigstens fünf oder sechs Kohlrabi.

Diese Amerikaner essen uns noch die Haare vom Kopf, sagte sie und ich habe verstanden, was sie meinte.

Karotten haben wir und auch Kohlrabi, sagte ich.

Kohlrabi, wirklich, Kohlrabi?, sagte sie. Vor Ewigkeiten hätte sie welchen gegessen, noch vor dem Krieg.

Kohlrabi.

Wie ihre Augen glänzten!

Dann also ein Kohlrabi und fünf Würste, sagte ich.

Drei Kohlrabi! Das ist der beste Pfälzer Tabak, den sie zur Zeit finden.

Ich unterdrückte ein Schmunzeln und sagte ganz schnell und bevor sie es sich anders überlegte:

Zwei Kohlrabi!

Und sie streckte mir ihre Hand hin und ich ergriff das weiche Leder.

 

Die sollen die Amerikaner aber nicht bekommen!, sagte sie und zwinkerte mir zu. Dann steckte sie die beiden Kohlrabi in ihre Handtasche.

Da habe ich vielleicht geguckt. Kohlrabi in die Handtasche. Wo gibt’s denn sowas?

Ich habe mir vorgestellt, wie die Kohlrabi in der Tasche liegen, Seite an Seite mit einem Hornkamm, einem Taschenspiegel und einem Parfümfläschchen, dazu ein weißes, mit Bleiche behandeltes Taschentuch mit Spitze umhäkelt. Das roch nach Kernseife, vielleicht auch nach Lavendel oder Kölnisch Wasser.

Jaja, lach du nur, aber stell dir doch mal diese Nachbarschaft meiner Kohlrabi vor!

Vielleicht hat man sie später sogar auf echten Porzellantellern serviert und mit Silberbesteck gegessen. Irgendwie machten mich diese Gedanken froh.

 

Aber wir mussten ja noch zurück. Und der Weg war weit. Kurz vor der Grenze band ich mir das Bündel mit dem Tabak um den Leib, wickelte die Stoffbahnen um meinen Bauch und Rücken herum, dazwischen die feinen Tabakblätter. Ich dachte, dass ich jetzt auch ein feines Mieder und eine schlanke Taille hätte, zog alles glatt und darüber war ja das Kleid. Das würde niemandem auffallen, durfte niemandem auffallen. Die Einfuhr von dem Tabak ins Saargebiet hätte Zollgebühren gekostet, hohe Steuern, aber wir hatten ja kein Geld. Hamstern gehen hieß auch immer, die Sachen über die Grenze schmuggeln. Doch irgendwie hatte das alles lange gedauert, zu lange.

Was soll ich sagen?

Ach, der Schlagbaum war unten, als wir ans Zollhaus kamen.

Morgen früh um sechs machen wir wieder auf, sagte der Grenzer. Und dann: Aber ihr könnt hier schlafen, da drin gibt es eine Zelle, dort könnt ihr euch auf die Pritsche legen, natürlich lasse ich die Tür offen.

Wie der lachte!

Ich sagte, vielen Dank, aber… Ich traute den Zöllnern nicht.

Mädchen, hat er gesagt mit so einer ganz dunklen Stimme, Mädchen, ich tue dir sicher nichts und hier findest du weit und breit keine Unterkunft.

Er schaute so, dass mir nichts mehr einfiel. Und der Adoli und ich gingen in das Zollhaus und in die Zelle.

Hungrig legten wir uns hin, haben nicht getraut, eine Karotte oder eine Wurst vom Wagen zu holen, weil die Grenzer uns auch leicht alles hätten abnehmen können. Und das… nein, ich wollte nicht daran denken. Also lagen wir hungrig da und hörten uns atmen. Der Adoli schlief ganz schnell ein und ich auch, so müde waren wir.

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Mir war so heiß, das kannst du dir nicht vorstellen, und mir war schlecht. Hätte ich vorher etwas gegessen, jetzt hätte ich es ganz sicher erbrochen, so übel ging es mir. Und es wurde immer schlimmer. Kopfschmerzen. Herzrasen.

Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, lief über meinen Rücken, eigentlich über den ganzen Körper und ich zitterte. Siehst du, so habe ich gezittert.

Ich kann gar nicht sagen, wie elend es mir ging.

Das Nikotin kam aus dem Tabak heraus und zog in meine Haut und ich merkte, wie es schlimmer wurde, eine Vergiftung, regelrecht. Aber ich konnte ja nichts machen.

Irgendwann weckte ich aber doch den Adoli. Ich dachte wirklich, jetzt bist du gleich tot.

Mia, halte durch, sagte der, halte durch! In wenigen Stunden sind wir daheim.

Noch vor Tagesanbruch gingen wir hinaus, also ich schleppte mich irgendwie ins Freie, und gaben dem Pferd einen Eimer Wasser. Ich trank auch, als hätte ich seit Tagen nicht getrunken, obwohl der Grenzer nur Brunnenwasser hatte und man konnte nie wissen, ob nicht gerade eine Katze darin ersoffen war.

Der Grenzer sah mich plötzlich ganz genau an und ich dachte schon: Oh Gott, der hat was gemerkt. Jetzt ist alles aus.

Der Grenzer sagte, ich würde nicht gut aussehen.

Meine Knie, das kannst du dir vorstellen, butterweich. Gezittert habe ich, gezittert überall.

In anderen Umständen, wie?, sagte der Grenzer mit einem strengen Ton. Er pfiff und sah mich so von der Seite an, regelrecht unangenehm, als wäre ich eine von denen, die das Kind eines anderen kriegen, während der eigene Mann noch in Gefangenschaft ist.

Ich konnte schon nichts mehr sagen. Schwitzte und zitterte, musste mich konzentrieren, um mich aufrecht zu halten.

Noch vor sechs Uhr sagte der Zöllner plötzlich: Also jetzt geht schon, bevor Sie mir hier verrecken, junge Frau.

Der Adoli zog mich hoch auf den Wagen. Ich saß gekrümmt, vor lauter Schmerzen, meine Nase lag praktisch auf meinen Knien. Ich hörte nur noch das Schlagen der Hufe auf dem Asphalt.

 

Mach Halt! sagte ich irgendwann in einem Waldstück und der Adoli fuhr an den Rand und drehte sich zur Versicherung in alle Richtungen. Ich riss mein Kleid auf, dass die Knöpfe absprangen und schrie: Hilf mir, Adoli, so hilf mir doch! Er zögerte, weil ich doch die große Schwester war und auch verheiratet und überhaupt. Stell dich nicht so an!, rief ich, ich brauche Luft, schrie ich, Luft!

Und unsere Hände gingen durcheinander und irgendeine Hand riss mir den Stoff vom Leib und den Tabak auch. Und die Haut und der Stoff waren schweißnass und gelb, dass es mich vor mir selbst ekelte.

 

Später, als der Vater die Plane auf der Ladefläche zurückschlug, fanden wir zwei Karotten. Mehr hatten uns die Grenzer nicht gelassen. Als Metzger braucht man Kraft und – um so ein Tier zu töten – auch einen Willen. Dagegen kam ich nicht an. Gleich beim ersten Schlag ging ich zu Boden und lag da wie betäubt. Der Adoli ist sofort dazwischen und hat alles abbekommen. Als erstes kam immer der Schlag, unmäßig und roh, und wenn man am Boden lag, dann trat der Vater mit den Schlachterstifeln auf einen ein.

 

Den Tabak haben wir teuer bezahlt, sagte der Adoli später, als ich ihm einen Kräuterwickel auf die blauen Flecken gelegt habe.

Weißt du, eigentlich war er ja noch so jung, der Adoli, und ein richtiger Halbstarker, aber wo er Recht hat, hat er Recht.