Das Heilige Kastl

(gewidmet meiner Uroma Helene Janka, geborene Ramold)

„Schaut mal her, was ich grad gefunden hab!“, ruft meine Mutter und kommt mit einer schwarzen Blechschatulle unterm Arm ins Esszimmer.

„Ja, mei! Des is ja des heilige Kastl von meiner Oma Helene!“ Mein Vater setzt seine Lesebrille ab, faltet die Zeitung zusammen und holt den Korkenzieher aus der Schublade. Meine Mutter wischt “das heilige Kastl” staubfrei. 

Immer, wenn ich aus Berlin nach München zu Besuch komme, setzen sich meine Eltern mit mir nach dem Abendessen mit einer Flasche Wein zusammen: Zum „Ratschen“, wie man in Bayern sagt. Also einfach zum Reden – über Altes und Neues, über Zukunftspläne und Familienerinnerungen. Letzteres stand also heute auf dem Programm und das Heilige Kastl meiner Uroma schien der perfekte Fundus dafür zu sein.

Neugierig öffnet mein Vater die Schatulle und legt den Inhalt auf den Tisch.

Mir fallen zuerst die vielen katholischen Devotionalien auf: Heiligenbilder, Rosenkränze, Ausschnitte aus dem Altöttinger Liebfrauenblatt.

„Mei“, sagt mein Vater, „es ist ja überhaupt ein Wunder, dass es das Kastl überhaupt noch gibt. Weil: Am 13. Juni 1944 – dem Tag, an dem ich geboren wurde – wurde die Wohnung meiner Oma Helene in der Westendstraße im Bombenhagel in Schutt und Asche gelegt. “Ausgebombt” – wie man damals sagte. Aber das heilige Kastl – das hat sie in dieser Nacht wohl mit in den Luftschutzkeller genommen. Später hat sie immer gesagt, dass das natürlich ein Wunder war und der Liebe Gott ihr halt die Rosenkränze erhalten wollte.

„Schau mal was wir hier haben!”, fällt meine Mutter ihm ins Wort. “Ihr Heft  mit den Kochrezepten!” Meine Mutter nimmt ein kleines, mit enger Bleistiftschrift beschriebenes Oktavheft in die Hand und versucht zu entziffern: „Rezepte der fränkischen Küche – von Helene Ramold …“

Und so beginnen wir dann, begleitet von einem Merlot, mit dem Ratschen über meine Urgroßmutter Helene.

Helene Ramold wurde 1889 geboren. Sie stammte aus einer unterfränkischen Kleinbauernfamilie. Viele Geschwister – wenig Besitz. Schon mit 13 wurde sie aus dem Haus geschickt. Als Dienstmagd begann sie ihr langes Arbeitsleben und ihr größtes Talent lag in der Küche. Schon mit 16 wechselte sie als Köchin an ein katholisches Mädcheninternat, und schon zu dieser Zeit begann sie, ihre Kochrezepte in diesem Büchlein aufzuschreiben.

„Ihre eigenen Kochrezepte haben sie auch vom Mädcheninternat in Unterfranken in die Großstadt nach München gebracht“, erzählt mein Vater.

Irgendwann zwischen 1908 und 1914 bewarb sich Helene nämlich bei einem gewissen Prof. Henry. Der war als Sportbeauftragter in die bayerische Landesregierung berufen worden und suchte für seinen repräsentativen Haushalt in der Münchner Nymphenburger Straße kompetentes Personal. Helene wurde eingeladen, ihr Können unter Beweis zu stellen. Die Rezepte aus ihrem Heft schmeckten offenbar nicht nur in Unterfranken, sondern auch den frisch gebackenen bayerischen Regierungsbeamten und so fand sie Anstellung in einem hoch bürgerlichen Haushalt – nur zwei Stufen unter dem Prinzregenten Für Helene, eine Frau aus einfachsten Verhältnisse, war das ein echter Aufstieg.

„Trotzdem“, ergänzt meine Mutter, „das Leben als Hausangestellte war unvorstellbar hart. Sie hat mir mal erzählt, dass ihre Wohnkammer bei den Henrys noch nicht mal ein Fenster hatte. Sie war praktisch immer im Dienst. Nur eine Stunde am Tag und einen Abend die Woche hatte sie für sich. Da durfte sie sich ausruhen auf dem Zimmer oder auch mal tanzen gehen!“

„Hat sie denn beim Tanzen ihren Mann kennengelernt, also meinen Uropa?“, will ich wissen.

Mein Vater zuckt mit den Schultern:„Wahrscheinlich schon“, sagt er, „aber erst sehr viel später, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs. Da war sie dann schon Ende 20 und zum Heiraten für damalige Verhältnisse schon fast zu alt.“

„Genau“, lächelt meine Mutter, und hier haben wir das passende Erinnerungsstück dazu.“ Sie nimmt eine verblasste Visitenkarte vom Tisch: „Brennstoffhandel Rast & Sohn – Kohle, Briketts, Brennholz.“

In der Zeit, als Helene bei Prof. Henry angestellt war, war es üblich, dass der Sonntagnachmittag freigehalten wurde, um Besuch jeglicher Art zu empfangen. Helene war dann als Empfangsdame im Vorraum des Salons abgestellt. Sie legte die überreichten Visitenkarten der ankommenden Besucher auf ein Silbertablett und meldete den Gast mit einem Knicks beim Hausherrn an. Die Sonntagsbesucher kamen mit den verschiedensten Anliegen in die Nymphenburger Straße. Darunter waren auch Händler und Lieferanten, die den Haushalt der Henrys beliefern wollten, vielleicht in der Hoffnung, irgendwann nach oben empfohlen und sich dann “Könglich bayerischer Hoflieferant” nennen zu dürfen.

Ein gewisser Josef Janka, Handelsvertreter der Kohlenhandlung „Rast und Sohn“, machte wohl gleich mehrfach seine Aufwartung – nicht aber nur, um die Henrys als Kunden für Heizmaterial zu werben, sondern wohl, weil Josef bei einer Tanzveranstaltung flüchtige Bekanntschaft mit Helene gemacht hatte und sich mit seinen sonntäglichen Aufwartungen in Erinnerung rufen wollte.

„Das  Ende des Ersten Weltkriegs hat sich für Oma Helene alles verändert“, sagt mein Vater. Der Zusammenbruch Monarchie kostete sie ihre Stellung. Sie heiratete schließlich den Kohlenvertreter Josef und bekam drei Kinder – Martha, Otto und Antonie – wobei Otto an einer Lungenentzündung mit nur zwei Jahren starb.

„Helene hat über diesen Tod später nie gesprochen“, sagt meine Mutter, „der Schmerz war zu groß. Und ob das mit dem Josef eine Liebeshochzeit war. Ich glaub eher nicht.”

Wir schweigen eine Weile, trinken – wie immer zu schnell – die erste Flasche leer. Ich gehe in den Keller, hole eine zweite. 

Im weiteren Verlauf des Ratsch-Abends verlieren wir den Inhalt der Schatulle ein wenig aus den Augen und unser Gespräch mäandert – weingeschwängert – durch die nächsten Jahrezehnte unsere Familiengeschichte. Für die 20er, 30er und 40er Jahre ist die stark mit den geschichtlichen Ereignissen verwoben. Der verlorene Erste Weltkrieg, die große Inflation von 1923 – all das waren Schockwellen, die sich tief in die Schicksale der Menschen eingebrannt haben und die auch Helenes Leben kräftig durcheinander wirbelten.

„Ganz viele Menschen“, so mein Vater, „haben dann in dem aufsteigenden Hitler so eine Art Messias gesehen. Der hat ihnen einfach das Blaue vom Himmel versprochen und viel zu viele haben ihm geglaubt. “ Fast stolz fügte er hinzu, dass Helene und ihr Mann überhaupt „nichts von dem Deppen gehalten haben“.

Helene wurde sehr früh Witwe, schon 1935 starb Josef an den Spätfolgen einer Tuberkulose. Ihre älteste Tochter Martha, die Mutter meines Vaters war da gerade 14 Jahre alt. Helene bezog nur eine schmale Witwenrente und erputzte sich den Rest des Lebensunterhalts – in Metzgereien und anderen Geschäften der Umgebung. Tochter Martha wuchs zu einer jungen Frau heran und heiratete 1942 –  mitten im Krieg – den nach Bayern verlegten Soldaten Ernst aus Niedersachsen. Helene und Ernst verstanden sich auf Anhieb prächtig. Das Problem dass er Protestant war bereinigte er, als er um Marthas Hand anhielt mit den Worten: “Wir heiraten katholisch, kein Problem. Denn ich geh weder in die eine noch in die andere Kirche.”

Im Geburtsjahr meines Vaters 1944 lebten alle zusammen in der besagten Wohnung im Münchner Westend, die am 13. Juni in Schutt und Asche fiel.

Und danach?
Die Zeit nach 1945 wird in unserer Familie immer im klassischen westdeutschen Wirtschaftswundernarrativ erzählt. Helene wohnte mit Tochter Martha, Schwiegersohn Ernst und dem Kleinkind Herbert – meinem Vater – in beengten Verhältnissen in der Münchner Innenstadt. Alle schufteten wie verrückt. Helene putzte wieder in Geschäften und übernahm den Haushalt, Martha arbeitete als Sekretärin in einer großen Druckerei, ihr Mann Ernst als Spengler und Installateur.

1951 gründete er schließlich seine eigene Firma – und der wachsende Wohlstand ist auf unseren Familiendias bestens dokumentiert: Kühlschrank, Farbfernseher, Reisen, der erste Mercedes, der Umzug in ein großes Haus am Stadtrand. Die Firma hatte irgendwann über 70 Mitarbeiter. Ernst genoss den Wohlstand  starb aber schon mit 49 an einem „einfachen“ Herzinfarkt. Helene wohnte mit ihrer Tochter Martha bis zu ihrem Tod 1975 zusammen.

Mein Vater leert sein Glas und füllt mit Wasser nach. Er wirkt müde mit seinen 81 Jahren. Auch er ist Teil dieser Wirtschaftswundergeschichte. Nach dem frühen Tod seines Vaters übernahm er die Firma, führte sie durch schwere Zeiten – und übergab sie schließlich in den Nullerjahren an meinen Bruder.

Der Abend neigt sich dem Ende, da stoßen wir – mein Vater und ich – im Heiligen Kastl auf ein letztes Fundstück.

„Schau mal hier“, sagt er und faltet ein weißes, liniertes Stück Papier auseinander. Die Schrift ist noch erstaunlich gut lesbar.


„Hier hast du es – schwarz auf weiß. Es ist eine Quittung über 650 Deutsche Mark. Unterschrieben am 11. Mai 1950. Von meinem Vater. Oma Helene hat meinem Vater nämlich das Startkapital gegeben, damit er die Firma überhaupt gründen kann. So konnte er Material kaufen, eine Werkstatt mieten – und den Grundstein legen für alles legen, was danach kam.“

“Ach, das wußte ich ja gar nicht,” rufe ich erstaunt. Und bin es auch! Denn das Storytelling des Familienunternehmens kannte ich bisher nur als männlich dominierte “Vom Großvater zum Vater zum Sohn” Erzählung.

“So, genug geratscht, sagt meine Mutter. Wir gehen jetzt ins Bett!”. Die Gläser werden weggeräumt, die Erinnerungsstücke in der Schatulle verstaut. 

Ich bleibe noch eine Weile alleine sitzen. Voller Ehrfurcht und Respekt schau ich auf das Heilige Kastl und auf das Leben dieser Frau,   die mit 13 anfing, Rezepte zu sammeln,
die als junge Köchin im München der Prinzregentenzeit arbeitete,
die spät heiratete, in der Nazizeit zwei Töchter alleine großzog,
und schließlich ihrem Schwiegersohn das Startkapital für eine Firma gab,
die bis heute unsere Familie nährt.

Danke, Helene.

Jörg Olvermann
Jörg Olvermann, Jahrgang 1971, zog mit 21 Jahren nach Berlin, studierte an der UdK und arbeitet als Berater, Konzepter für Digitale Medien.