Feuer

Aus der Tür des Ladengeschäfts im Little Village dampften immer noch Schwaden grauen Rauchs. Den Brand hatten wir gelöscht. Im Hinterzimmer des Ladens lag ein Haufen verkohlter Maschinenpistolen, Eigentum der Latin Kings

Es war der vierte Einsatz innerhalb von nur sieben Tagen, bei dem offensichtlich rivalisierende Gangs das Feuer gelegt hatten. In ihrer aktuellen Ausgabe berichtete die Chicago Tribune über den eskalierenden Bandenkonflikt zwischen dem Bündnis der Folk Nation und der People Nation. Überschrift: „The Great Chicago Fires“. Natürlich bezog man sich mit dem Titel auf „The Great Chicago Fire“ von 1871, bei dem die gesamte Chicagoer Innenstadt zerstört worden war und über hunderttausend Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren hatten. Doch nun waren es eben einzelne Brandherde, die seit ungefähr einem Monat in der Stadt für massive Zerstörung sorgten. Und für Angst. 

Wir verstauten gerade unsere Ausrüstung im Truck, als von den umstehenden Nachbarn Beifall aufbrandete. Mein Kollege Warren grinste mich an. Unsere Beliebtheit war in den letzten Wochen exponentiell gestiegen.

JAKE! WAR-REN!“, bellte unser Chief und winkte uns zu sich herüber. Dort stand ein Fotograf mit seiner Kamera. Natürlich, die Presse war ebenfalls angerückt. Wir positionierten uns Arm in Arm mit einer Handvoll Feuerwehrmännern aus der 18. und blickten lächelnd in die Linse. Nachdem der Fototermin vorbei war, klopfte uns der Chief auf die Schultern.

„Na, meine beiden Posterboys…“ Es war ein running gag, denn der Chief bestand tatsächlich darauf, dass wir bei jeder Presseaufnahme mittig in der ersten Reihe standen. 

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Am nächsten Tag ging es auf der Feuerwache 35 zunächst einmal gemächlich zu. Die Ladders und Engines standen blankgeputzt in der Garage. Warren und ich saßen draußen in der Sonne und rauchten Lucky Strikes.

Wir beobachteten nun, wie eine schlanke Brünette mit langen Beinen über den Hof gelaufen kam, direkt auf uns zu. Ich nahm noch einen Zug und drückte dann meine Zigarette aus. Warren neben mir nahm eine aufrechte Haltung ein und flexte die Muskeln. Die Frau mit den langen Beinen stellte sich als Carole Fisher von der Chicago Sun-Times vor. Dann sagte sie: 

„Jake Mills und Warren Gorman? Ich möchte mich im Namen der Einwohner Chicagos für Ihre großartige Arbeit bedanken. Sie sind echte Helden.“ 

Warren und ich nahmen die Aussage regungslos entgegen.

Carole Fisher von der Chicago Sun-Times fixierte mich mit ihren grünen Augen und fuhr fort:

„Sie sind Jake Mills, richtig? Es wurde darüber berichtet, dass Sie bei einem Einsatz letzte Woche ins Kreuzfeuer zweier Gangs geraten sind. Eine Kugel ist knapp neben Ihrem Kopf in das Löschfahrzeug eingeschlagen.“

Ich sah, wie sich ihre Pupillen weiteten. Adrenalin-Junkie.

„Es geht manchmal schon heiß her“, erwiderte ich lakonisch. 

Die Journalistin holte ein Foto aus ihrer Tasche.

„Ist das der Mann, der auf sie geschossen hat?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht, ob er direkt auf mich geschossen hat oder jemand anderen treffen wollte, aber ja“, antwortete ich.

„Wissen Sie, wer das ist?“, fragte Carole Fisher nun.

„Keine Ahnung. Sollte ich?“, erwiderte ich.

„Das ist Federico Hernandez, Anführer der Latin Disciples und aller Wahrscheinlichkeit nach derjenige, dem wir diese Vielzahl an Bränden zu verdanken haben. Die Polizei geht davon aus, dass er es war, der als Erstes den Feuerteufel gespielt hat. Danach ist die Situation außer Kontrolle geraten. Federico gilt als einer der gefürchtetsten Bandenführer der Stadt. Er ist der Großcousin von Albert „Hitler“ Fernandez, falls der Ihnen ein Begriff ist“, erklärte sie.

„Viel Feind, viel Ehr‘“, meinte Warren lachend und boxte mich in den Arm. In seinen Augen konnte ich jedoch erkenne, dass er alles andere als erfreut darüber war, dass die Journalistin ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete. 

„Hören Sie“, sagte Carole Fisher zu mir, „Ich würde gerne ein Portrait schreiben über den Mann, der Federico Fernandez Auge in Auge gegenüberstand und überlebt hat. Mich würde interessieren, ob …“ 

Im Hintergrund ertönte die Sirene. Über den Lautsprecher erklang die Durchsage: „Division Street, Ecke Maplewood.

„Sorry“, sagte ich zu Miss Fisher, „die Arbeit ruft.“

Wir standen auf. 

Carole streckte mir ihre Visitenkarte entgegen. „Melden Sie sich einfach, wenn Sie Zeit haben.“ Ihr Blick verriet, dass sie dabei mehr im Sinn hatte, als nur ein Interview. 

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Der Truck kam mit quietschenden Reifen am Einsatzort zum Stehen. Aus der oberen Fensterreihe des doppelstöckigen Backsteingebäudes schlugen Flammen. Schwarzer Rauch quoll daraus hervor. Ein ganz klares Zeichen. 

„Wir brauchen eine Abluftöffnung oben auf dem Flachdach“, meinte ich zum Chief, „Aber mit der Leiter kommen wir da nicht ran. Ich kann schauen, ob ich von hinten einen Zugang finde …“ 

Der Chief nickte mir zu. 

Ich legte meine schwere Montur ab, um schneller zu sein, und lief in die enge Seitenstraße. Da waren zunächst nur Garagen und Zäune, ich konnte keinen Zugang finden zu dem rückgesetzt stehenden Gebäude. Doch dann sah ich eine Holztreppe, die in die richtige Richtung führte. Ein Mann mit einem Rucksack in der Hand preschte von dort herunter und lief auf mich zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ihn erkannte. Es war Federico Hernandez, dessen Kugel ich fast eingesteckt hatte. Unsere Blicke trafen sich. Feuer sprach aus seinen Augen, kein Erkennen jedoch. Nur: Ich stand ihm ganz klar im Weg. Hernandez zückte ein Messer und kam auf mich zu. Dieses Feuer in seinen Augen, es hypnotisierte mich. Dann sprang der Funke über. Als er mich attackierte, drehte ich mich seitwärts, bekam seinen Arm von außen zu fassen und rammte ihn mit Wucht und voller Hebelwirkung gegen meine Hüfte. Sein Unterarmknochen brach und das Messer fiel aus Hernandez‘ Hand. Ich führte ihn mit dem gebrochenen Arm an seinem Rücken ab, raus aus der Seitengasse. Dort übergab ich ihn der Polizei, die bereits wegen des Brandes eingetroffen war. 

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Drei Wochen waren vergangen, seit Federico Hernandez im Krankenhaus und dann im Knast gelandet war. Carole hatte in der Chicago Sun-Times die große Cover Story über mich – den Helden der Stunde – gebracht. Wir dateten jetzt und der Chief hatte mich für die Medal of Valor vorgeschlagen. Warren war von diesen beiden Dingen nicht gerade begeistert, aber wen interessierte das schon. Nach der Verhaftung des Anführers der Latin Disciples hatten die Banden keine Brände mehr gelegt. Alltag und Ruhe waren eingekehrt. 

Carole recherchierte noch für die große Backstory zu den Ereignissen der letzten Wochen. Gerade heute Morgen hatte sie mit einem Informanten, der in unmittelbarem Kontakt mit den Maniacs stand, telefoniert. Ich lehnte mit einer Tasse Kaffee am Counter in der Küche und hörte, wie sie im Nebenzimmer darüber sprach, dass die Maniacs ihren Medikamentenvorrat zur Herstellung von Meth in Sicherheit gebracht hatten, noch bevor dieser vom Feuer vernichtet werden konnte. Sie hatten ihn an einen Ort gebracht, der von den anderen Gangs nicht ausfindig gemacht werden konnte, einen Ort in Bucktown, also in dem Viertel, in dem Carole wohnte. Das war natürlich clever, denn wer erwartete schon Gangaktivitäten im größten Hipsterbezirk Chicagos? Carole wiederholte die Insiderinformation, als sie die Adresse notierte. Die Medikamente befanden sich im Keller eines Bürogebäudes am Fluss. Ich verzog das Gesicht und stellte die Kaffeetasse ab. Der Grund dafür war nicht der bittere Kaffee. Das Bürogebäude befand sich unweit unserer Feuerwache.

Carole arbeitete den ganzen Tag an ihrer Story, während ich auf der Couch lag, Fernsehen schaute und Empanadas mit Chili futterte. Kurz vor Sonnenuntergang ging ich zu ihr rüber, gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ die Wohnung, um zur Schicht zu fahren. Tatsächlich musste ich erst in einer Stunde auf der Wache sein und so fuhr ich mit meiner Karre durchs Viertel. Es war ein lauer Sommerabend und man sah viele Leute auf der Straße, unterwegs in eins der schicken Restaurants oder Bars. Im Autoradio lief der Song „Cat People“ von David Bowie, den ich mitsummte. Don’t you know my name? You’ve been too long … Ich fuhr West Armitage Avenue herunter, vorbei am Map Room, wo ich mir morgens häufig Donuts holte und abends ein paar Mal mit Carole etwas trinken war, dann weiter geradeaus, unter dem Highway hindurch und die Ashland Avenue hinunter. An der West McLean bog ich rechts ab. Durch das offene Fenster meines Autos wehte der Geruch von gegerbtem Leder der Horween Leather Company zu mir herein. Ich passierte die Hausecke mit dem großen Streetart-Gemälde eines schwarzen Vogels. In der Dämmerung sah das Tier aus wie ein zu Asche verbrannter Phönix. Ich fuhr an der Zementfabrik vorbei und hielt an der Ecke West Homer Street, wo sich das Bürogebäude befand. Es war zu dieser späten Stunde genauso ausgestorben, wie der Rest des Blocks.

Mithilfe eines hoch entwickelten Dietrichs, den wir bei Einsätzen benutzten, verschaffte ich mir durch die Hintertür Zugang zu dem Gebäude. Ich schaltete meine Taschenlampe an und ging in den Keller hinunter. Durch eine Stahltür betrat ich einen weitläufigen Raum mit Säulen und niedriger Decke, in dem stapelweise Kisten standen. Ich ging zu einem der Stapel und öffnete einen Karton. Darin befanden sich unzählige Schachteln Aspirin Complex, Wick MediNait, und Supercaps. Das hier waren Medikamente, die den Wirkstoff Ephedrin enthielten und aus denen man Crystal Meth herstellen konnte. Ich musste an etwas denken, das Warren einmal gesagt hatte, nämlich dass diese Droge im Zweiten Weltkrieg „Panzerschokolade“ genannt wurde. Man gab sie Soldaten, um das Angstgefühl wegzumachen. 

In diesem Moment spürte ich eine Bewegung hinter mir. Ich richtete den Lichtkegel der Taschenlampe in die Richtung. Der Kegel tanzte von einer rot angestrichene Säule zur nächsten. Es war nichts zu sehen. Ich ließ den Lichtkegel wieder zurückgleiten in Richtung der Kisten. Erneut spürte ich die Bewegung im Rücken. Ich drehte mich um. Dieses Mal hatte ich das Licht der Taschenlampe zu Boden gerichtet. Jetzt sah ich sie mittig zwischen zwei Säulen: Augen, die aus loderndem Feuer bestanden. Der Funke sprang über. Ich schaltete die Taschenlampe aus und kramte in meiner Hosentasche. Nachdem ich gefunden hatte, was ich suchte, entzündete sich in der Dunkelheit vor mir der rote Phosphor eines Streichholzes. Ich schnippte es in eine der offenen Kisten, entzündete noch ein Streichholz und noch eins. Die Medikamentenpackungen fingen Feuer und es roch nach verbranntem Plastik. Ich drehte mich um und verließ den Kellerraum. Als ich draußen bei meinem Wagen ankam, zündete ich mir mit meinem letzten Streichholz eine Lucky Strike an. Ich stieg ins Auto und blickte auf die Uhr. In zehn Minuten begann meine Schicht. Geschätzt in einer halben Stunde würde man uns zum Einsatz rufen. Der Bowie-Song, der vorhin im Radio gelaufen war, kam mir wieder in den Sinn: I’ve been putting out fire … with gasoline.