Guten Morgen Sonnenschein

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Um 6:45 Uhr riss sie der Handy-Wecker unsanft aus dem Schlaf und beim Aufstehen vom harten Gästesofa zog ein kurzer stechender Schmerz durch Heikes Rücken. „AHHH.“
Sie streckte sich, schaute aus dem Dachfenster in einen blauen Sommerhimmel und ging ein Stockwerk tiefer. Lautlos versuchte sie, die Schlafzimmertür einen Spalt breit zu öffnen. Doch ein ungeöltes Scharnier kam ihr dazwischen. Das Quietschen schreckte Gert aus dem Schlaf: „Ah, Heike. Hast du wieder oben geschlafen? Hab ich wieder so geschnarcht?“
„Ist schon jut, macht ja nüscht“, sagte diese und ging nebenan ins Bad.

Morgenroutine. Ein Blick in den Spiegel und in ein Gesicht, das Heike nicht mochte. Trotzdem schaute sie intensiv hinein, zog die Mundwinkel nach oben und sagte: „Guten Morgen, Sonnenschein.“ Dieses kleine Ritual hatte sie aus dem Lebensratgeber Göttin sein leicht gemacht.

Dann ging sie noch ein Stockwerk tiefer, in die Küche der kleinen Doppelhaushälfte am östlichen Stadtrand Berlins, die sie seit 1987 bewohnten. Mit einer heißen Tasse Kaffee setzte sie sich ans Fenster und schaute auf den vertrockneten Juli-Rasen.

Erinnerungen tanzten jetzt vor ihren Augen. Erinnerungen an die vielen Jahre, die hinter ihnen lagen. Gartenfeste, der Geruch von Grillfleisch, Henry beim Spielen mit den Nachbarskindern, Gerts feuchter Atem, als sie voller Überschwang gleich am Einzugstag da hinterm Gartenschuppen … naja. Das war lange wirklich her.

Wie glücklich sie damals waren, dieses Haus zu finden. Mit S-Bahn-Anschluss. Nur knapp eine halbe Stunde brauchten sie und Gert damals auf ihre Arbeit ins „VEB Narva Kombinat Berliner Glühlampenwerk“ an der Warschauer Straße.

Vor die Erinnerungen an die weitere Vergangenheit, die Heike in der Regel mit einem Gefühl der Wärme erfüllten, schob sich eine ganz frische, eine eiskalte Erinnerung. Eine von letzter Woche. Es war der Anruf ihres alten Schulfreundes Mike, der seit einigen Jahren vorne bei Edeka arbeitete.

„Ganz ehrlich, Heike, dein Gert und unsere Susanne, da läuft was! Letzten Sonnabend hab ich euer Auto gegenüber bei Getränke Hoffmann stehen sehen. Und die Susanne aus der Back-Theke steigt einfach nach Feierabend da so bei ihm ein. Und die Begrüßung! Das war jetzt nicht nur Küsschen links und rechts, sondern, also, was soll ich sagen. Susanne hat ja auch son Wochenendgrundstück bei Strausberg mit ’nem Gartenhaus und, also, die Silvi vom Fleisch meinte, die hat das zu ’ner richtigen Liebeshöhle umgebaut. Mit Latex-Bett und Handschellen und so.“

Zu Heike hatte Gert gesagt, dass er zu einem Kumpel nach Strausberg fährt, um an einem alten Trabi rumzuschrauben.

In den Tagen nach dem Anruf tat Heike gegenüber Gert so, als sei nichts geschehen. Und sie war über ihre eigene Reaktion erstaunt. Auch wenn sie Mikes Anruf wie ein Schlag im Nacken traf, ein Gefühl der Trauer, Wut oder Fassungslosigkeit wollte sich nicht einstellen. Eher verspürte sie Erleichterung, dass ihr eigener Instinkt, was ihre Beziehung zu Gert betraf, nicht völlig falsch lag.

Ihre Liebe war längst erloschen. Die Trümmer ihrer Ehe fielen lautlos auf den Boden eines zu Stein gewordenen Alltags.

Plötzlich stand Gert im Morgenmantel in der Küche und Heike erschrak: „Entschuldige, Gert, ich wollte dich nicht so früh wecken. Als frisch gebackener Rentner kannst du doch jetzt ausschlafen.“
„Ist nicht deine Schuld. Ist wohl die Macht der Gewohnheit. Mal sehen, wie es dir ergeht, wenn du endlich in Rente gehen kannst. Wollte die Rentenversicherung nicht schon längst Bescheid geben, ob du jetzt alle Beitragsjahre zusammen hast oder nicht?“
„Ich hab da letzte Woche noch mal angerufen“, sagte Heike, „die sagten, das könnte noch eine Weile dauern.“
„… und solange gehste eben noch arbeiten“, erwiderte Gert, „mir wird in der Zwischenzeit nicht langweilig. Ich fahr heute noch mal raus nach Strausberg. Der Motor für den Trabi ist da und wir können den wohl heute schon einbauen. Könnte dann auch ein bisschen länger dauern heute.“

Jetzt schämte sich Heike für ihren Mann. Er musste doch tatsächlich diese doofe Trabi-Geschichte erfinden, um sich mit Susanne zu treffen? Und einen Kumpel, den er angeblich seit Armeezeiten nicht mehr getroffen hätte.

Heike nahm die Bahn um 7:36 Uhr. Ankunft Warschauer Straße 8:04. Seltsam, wie sich dieser Ort in ihr Leben eingebrannt hatte. VEB Narva gab es nicht mehr. Ihr Kollektiv, die schönen Feiern, die Parade am 1. Mai. Hackepeter und Sliwowitz – alles graue Geschichte. Und dennoch: Das war immer noch Heikes Arbeitsweg.

„Solar24 – die Energiewende bist du“ war der Name eines Photovoltaik-Startups. Es residierte im ehemaligen Narva-Turm, der schon in den 90ern zu Büros umgebaut wurde.

Heike, die seit dem Ende ihrer Ausbildung in der Glühlampenproduktion ein Dutzend Umschulungen, Weiterbildungen und Integrationsmaßnahmen absolvierte, schaffte es ohne einen Tag Arbeitslosigkeit bis in die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. Wo Vertrieb „Sales“ hieß, der Chef „CEO“, Leistung „Performance“ und ein Anschiss „transparentes Feedback-Gespräch“.
Heike konnte sich anpassen.

Solar24 vertrieb Photovoltaik-Komplett-Pakete für Einfamilienhäuser. Auf Wunsch samt Wärmepumpe. Das Angebot beruhte auf einem sehr langen Mietvertrag, bei dem die Hauseigentümer ihr Dach an Solar24 vermieteten und dafür recht wenig bekamen. Sogar den Strom der Anlage mussten sie zurückkaufen. Ein wirklich schlechtes Geschäft.

Ihr Chef war ein Arschloch. Heiner Spoon war noch keine 30, kam von einer privaten Elite-Uni, und trug einen blonden Scheitel.
Vor allem hörte er sich gern selbst  reden. Jeden Morgen hielt er eine kleine Team-Ansprache, getarnt als “Morning Stand Up”
„Morgen, meine Damen“, adressierte er das Sales-Team. „Ich habe grade von unserer Unternehmens-KI die neuesten Insights bekommen. Die Kalt-Akquise durch Sie ist nach wie vor der Key Factor für unseren Success und zwar ganz old school durch den direkten Kontakt zu unseren potenziellen Kunden per Telefon. Und der aktuelle Customer-Monitor zeigt, dass unsere Zielgruppe nach wie vor die Generation Gold aus dem liberalen bis grün-linken Milieu ist. Menschen, deren verbleibende Lebenserwartung indirekt proportional ist zum verfügbaren Einkommen und Vermögen. So der Typ ehemaliger Lehrer Ende 60, hohe Pension, Bewunderer von Robert Habeck und mit einem schlechten Gewissen, noch einen Volvo mit Verbrennermotor zu fahren. Ach ja, und natürlich hat er ein Riesen-Dach!“
„Wohl eher einen riesen Dachschaden!“, platzte eine vorlaute Stimme dazwischen. Die Stimme gehörte zu Gamma – dem jüngsten Mitglied im Sales-Team.
„Gina“, schrie Heiner schroff, „wie Sie angesichts Ihrer Einstellung eine Zukunft im Sales Team sehen, ist mir gänzlich schleierhaft!“
„Ich heiße Gamma, nicht Gina – das habe ich Ihnen schon 100-mal gesagt. Ich nutze ALLE Pronomen – also no offence, but please! Ich dachte, in Berlin wäre man da schon weiter.“

War man aber nicht. Vor allem nicht bei Solar24. Der Chef nannte Gamma standhaft Gina und es war klar, dass er sie so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Und Heike konnte das sogar verstehen. Am Telefon war Gamma eine Katastrophe. Ihre Vertriebszahlen unterirdisch und nicht einmal sie selbst glaubte daran, die Probezeit zu überstehen.

Heike nannte Gamma aber nicht Gina, sondern Gamma. Nicht, weil sie sich progressiv fühlte. Sondern weil es sich so gehörte, jemanden anzusprechen, wie er oder sie eben angesprochen werden sollte.
„Du bist cool“, sagte Gamma schon nach wenigen Tagen im Team zu ihr, „hätt ich nicht gedacht. Gerade viele Frauen so in deinem Alter …“

Heike wusste nicht, ob das wirklich ein Kompliment war.

Nach dem Stand Up begann der Arbeitstag.

 Die Sales Agents sprachen in ihre Headsets und schauten dabei konzentriert auf den Bildschirm, der die Namen der Angerufenen, aber auch mögliche Verkaufsargumente nannte.
Heike, selbst Hausbesitzerin, wusste auch ohne Gedächtnisstütze, welche Knöpfe sie bei den Angerufenen drücken musste, um Solar24 an den Mann zu bringen:
„Sie wollen Ihren Kindern doch sicher eine Immobilie von Wert hinterlassen?“
„Ihre Frau ist stolz auf Sie, wenn Sie Ihr gemeinsames Heim fit für die Zukunft machten!“
„Ihr Geld in erneuerbare Energien zu investieren: Sie können Ihren Enkeln kein größeres Geschenk machen.“
„Ihre Nachbarn werden Augen machen, wenn Sie als Erster in der Gegend Ihren eigenen Strom erzeugen.“

Heike machte bis zur Mittagspause vier Abschlüsse, Gamma keinen einzigen.
Sie verbrachten die Pause gemeinsam auf der kleinen Dachterrasse, die den Blick über die Gleise der Warschauer Straße freigab.
„Ich kündige heute zum Feierabend“, sagte Gamma.
„Verständlich“, sagte Heike. „Darf ich ehrlich sein: Vertrieb ist nichts für dich!“
„Ich dachte halt, dass es cool ist, Solaranlagen zu verkaufen“, sagte Gamma.
Heikes Herz wurde warm: „Ich habe in den letzten 35 Jahren acht Mal den Job gewechselt. Du findest bestimmt noch etwas, was zu dir passt.“
„Jaaaa“, sagte Gamma, „egal. Ich fahr heute erstmal mit dem Nachtzug nach Paris und morgen weiter in die Bretagne. Meine große Schwester hat ein kleines Wandertheater und ich reise ein paar Monate mit. Und du so?“
„Ich warte grad auf die Rente“, antwortete Heike.
„Ach, und dann kannst du deinen Ruhestand so richtig genießen, oder?“ Gamma schaute Heike freudig an.

Heikes Gesicht fror ein. Sie dachte an Gert, an Susanne aus der Back-Abteilung, an das Latex-Bett in Strausberg und an all die Jahre, die noch vor ihnen lagen.

Heikes Handy vibrierte.
„Dreyfus hier, Deutsche Rentenversicherung. Wir haben Ihren Widerspruch jetzt bearbeitet und wir wollten Ihnen schon mal vorab mitteilen, dass …“ Heike hörte den kurzen Ausführungen aufmerksam zu und beendete das Gespräch mit einem höflichen: „Vielen Dank für Ihre Mühe und auf Wiederhören.“

Dann warf sie aus einem Impuls heraus, den sie selbst überhaupt nicht zuordnen konnte, ihr Telefon in hohem Bogen über die Bahngleise.

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„Bist du schon wach?“, fragte Gamma und wuppte zwei dampfende Kaffeebecher ins Abteil des Zuges. „In zwei Stunden sind wir in Paris und meine Schwester erwartet uns dann in Rennes. Sie findet die Idee, dass du im Theater mithilfst, großartig.“

Heike lächelte ihre Rückenschmerzen weg, setzte sich auf, nahm den Kaffee und schaute neugierig aus dem Fenster über ihr unbekannte Landschaften. Wenig später ging sie auf die Zugtoilette, fixierte ihr Gesicht in dem fast blinden Spiegel und sagte: „Guten Morgen, Sonnenschein!“

Jörg Olvermann
Jörg Olvermann ist in München geboren und aufgewachsen. Seit den frühen 90er Jahren lebt er in Berlin. Neben seinem Job im Marketing ist Schreiben seine große Leidenschaft. Nach einer Weiterbildung ist er außerdem als Systemischer Coach tätig.