Blut und Wasser

(von Thanassis Kalaitzis)

Auf einer Landstrasse zwischen Edirne und Kastania treffen zwei Familien aufeinander.
Die eine Familie mit einem Pferdewagen. In dem sitzen die Alten, zwei Frauen zwei Männer, ein kleine Plane schützt sie, eine Ikone und ein mit einem Tuch bedecktes Fass vor dem kühlen Herbstregen. Dieser Wagen, neben dem eine ältere Frau und zwei als Jungen verkleidete Mädchen laufen und auf dessen Bock wohl neben dem Vater zwei Jungs hin und her rutschen, fährt in Richtung Westen.
Die andere Familie trägt ihre Habseligkeiten auf dem Rücken, die Alten wie die Jungen. Stühle, ein Bilderrahmen, ein Gebetsteppich, Geschirr und ein Tisch zieht ein schwächelnder Esel vor einem zweirädrigen Karren, den Esel zieht ein neunjähriger Knabe. Sie alle ziehen in Richtung Osten.
Es ist November und beide Familien sind seit Wochen unterwegs. Sie haben alles verloren. Nur was sie zum Überleben brauchen und was sie nicht in der Heimat zurücklassen wollten, haben sie mitgenommen.
Im Pferdewagen beginnt eine der beiden Frauen beim Anblick der anderen Familie zu klagen. Eine hohe Stimme schallt in den dünnen Regen. Die Atemlosigkeit und die kurzen Sätze lassen ahnen, dass sie die Anderen beschimpft. Einer der alten Männer zupft an ihrem schmutzigen Kleid und ruft ihr mit einer Handbewegung, die zum Karren hinüberzeigt, etwas zu. Er zeigt auf den Karren, auf die Menschen, auf die baren Füße, die wenigen Habseligkeiten, den mageren Esel und spricht. Die alte Frau verstummt für einen Moment und bricht dann mit markerschütterndem Heulen zusammen.
Vom Lärm erschrocken stoppt der ostwärts ziehende Esel vor dem Karren. Seine Unwilligkeitsschreie mischen sich mit dem Heulen der Alten vom Pferdewagen. Der Kutscher bringt die nach Westen ziehenden Pferde und den Wagen zu einem Halt. Die Familien stehen – nebeneinander. Auf einem schlammigen Weg, barfuss. Beide Familien sprechen die Sprache der Anderen und wissen dennoch nicht, was es zu sagen gäbe.
Nach einer Weile regt sich der Alte, der gerade am Kleid seiner Alten gezupft und zu ihr gesprochen hatte, unter der Plane auf dem Pferdewagen. Er macht das Fass frei und taucht einen Krug in das wenige Wasser. Dann steigt er unter Mühen herab und reicht den wassergefüllten Scherben der anderen Familie. Jeder erhält einen Schluck. Dann steigt er zurück auf den Wagen und gibt dem Kutscher erschöpft ein Signal zum Aufbruch.
Der Junge zupft am Seil, mit dem er den Esel führt bis der seinen ersten von vielen weiteren Schritten macht.
Beide Familien ziehen in ihre Richtung weiter, mit der Hoffnung, die neue Heimat noch vor dem Winter zu erreichen. Die jetzt nur noch leise schluchzende alte Frau unter der Plane wünscht sich ein besseres Leben für ihre Kinder und Kindeskinder. Sie wünscht sich und ihren Nachkommen ein zu Hause, dass niemand gegen deren Willen verlassen muss. Sie wünscht sich, das die Vielen, wegen eines dummen Bedürfnisses zu herrschen und zu siegen eines Einzigen, nicht alles verlieren müssen was sie besitzen; ihre Vergangenheit und ihre Zukunft.
Ihr Wunsch erfüllt sich schließlich 90 Jahre später als ihr Urenkel eine Zwei-Raum 1555 Kilometer weiter nordwestlich in Neukölln findet (nach P-Berg/F-Hain und kurz in Moabit) und sich zum ersten mal so richtig zu Hause fühlt. Niemand weiß mehr von dem Wunsch einer vertriebenen alten Frau im Jahr der „kleinasiatischen Katastrophe“ — 1922.