Luftangriffe (2025)

Text im Clip
Eberhard hatte Ellen eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen. Sie war ja auch monatelang nur unterwegs gewesen. Erst die Lesereise durch die Schweiz, dann die Buchmesse in Leipzig,

Auftritte in Talkshows in München, Mainz und Hamburg. Doch an diesem Abend hatten beide endlich mal wieder Zeit für sich und eine gute Flasche Rotwein.


„Meine liebe Ellen, ich freu mich so für dich,“ sagte

Eberhard, „500.000 verkaufte Exemplare. Und Andrea Sawatzki spricht das Audio Book? Atemberaubend!”„Ach Ebi“, sagte Ellen erstaunlich bedrückt, „der ganze Trubel um das Buch, das wirbelt mich ganz schön durcheinander. Diese ganze Aufregung…Mit „Aufregung“ meinte Ellen die hitzigen Debatten, die sich in Deutschland kurz nach demErscheinen ihres Buchs in der Öffentlichkeit entfachten. Denn Ellen Stein, eigentlich eine bis dato eher unbekannte freie Journalistin, hat mit ihrem Erstlingswerk den Nerv der Zeit getroffen.
Der Titel: PANDEMIE – LUFTANGRIFF DER SEUCHEN!
Ihr Thriller handelt vom Tod eines deutsch-russischen Virologen, der im Dienst eines nicht näher genannten Geheimdienstes in einem Labor in Hessen ein tödliches, hochansteckendes Virus züchtet. Er versucht schließlich, den Erreger ins Land seiner Auftraggeber zu liefern, wird jedoch auf dem Frankfurter Flughafen erschossen. Die Virusproben verschwinden spurlos und wenige Wochen später tauchen in Berliner Regierungskreisen erste Erpresserschreiben auf, die mit bioziden Anschlägen drohen. In einer Traglufthalle eines Brandenburger Tennisclubs Mahlow sterben kurz danach 12 Spieler*innen an einer plötzlich einsetzenden Atemnot. 
Eberhard goss Ellen Rotwein nach.
„Ellen“, sagte Eberhard, „bei aller Freundschaft: Du musst zugeben, dass die Aufregung erst durch deinen Verlag und dein Schweigen so richtig befeuert werden. Deine Verlegerin hat doch in diesem 3Sat-Interview betont, PANDEMIE sei eben keine reine Fiktion. Dass du auf Quellen aus Geheimdienstkreisen gestoßen bist – und genau daraus dein Buch entstanden ist. Und dass du dich weigerst, dazu Stellung zu nehmen, um deine Informanten und dich selbst zu schützen. Ganz Deutschland will jetzt wissen, ob an der Story was dran ist!“
Ellen stellte ihr Glas ab. Ihre Stimme zitterte.
„Ich kann dieses Thema nicht mehr hören. Langsam bereue ich es, PANDEMIE überhaupt geschrieben zu haben. Ich hätte einfach bei meinem Neuköllner Foodblog und den Volkshochschulkursen bleiben sollen.“
“Siehst du? Du weichst aus!“, beharrte Eberhard „Und genau das macht das Buch so umstritten und so erfolgreich. 
Ellen seufzte. „Mag sein, aber bitte Ebi, lass uns nicht das schöne Wiedersehen von dieser Geschichte ruinieren. Erzähl mal lieber, was bei dir los war. Du bist noch nach deiner Burn Out Reha richtig durchgestartet und hast sogar eine  Coaching-Ausbildung angefangen… Erzähl mal!”
Der Rotweinabend ging beschwingt weiter und erst spät zu Ende. Dann herrschte Funkstille.


Zwischenspiel: Gidre tanzt „Air“


Nachdem Ellen auch am vierten Tag nicht auf Eberhards Nachrichten reagierte, klingelte er an ihrer Wohnungstür. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er Schritte auf der anderen Seite hörte. Ellen öffnete die Tür einen Spalt breit. Die Haare zerknittert. Mit tiefen Augenringen. Wortlos bat sie ihn herein. “Ich hab mir echt Sorgen gemacht, Ellen, was ist denn los mit dir?”, fragte er.
”Ach, bich bin total gerädert, sagte sie, “ich schlafe nachts kaum, hab so komische Träume Tagsüber komme ich aus dem Telefonieren nicht mehr raus. Gestern hat so ein Typ angerufen, der meinte er sei vom BND und wollte mich zu meinen Quellen für den Roman befragen. Und stell dir vor, Dunja Halali hat sogar persönlich angerufen, um mich zu einem Interview ins ZDF Morgenmagazin einzuladen.”
“Ist das nicht die Publicity die du dir immer gewünscht hast?”, fragte Eberhard erstaunt, “oder steckt doch etwas anderes dahinter? Vielleicht hast du ja wirklich Informationen, dass bald ein Terroranschlag mit Viren bevorsteht. Ich denke, mit dem BND solltest du reden. Unser Land ist vielleicht in großer Gefahr!”
“Eberhard, hör auf. Ich hab dir doch gesagt, ich kann im Moment zum Roman nichts sagen. Das macht jetzt alles der Verlag. Ich bin einfach nur durch den Wind. Das wird schon wieder!”
Ellen komplimentierte Ebi hinaus, doch er blieb unruhig, so als hätte er bereits geahnt, was wenige Stunden später geschehen sollte.
Mitten in der Nacht riss ein Klingeln an der Tür Eberhard aus dem Schlaf. Ellen stand vor seiner Tür. Barfuß und verheult.
„Ich kann nicht mehr“, keuchte sie leise. „Ich hab solche Angst.“
Sie fiel ihm um den Hals, klammerte sich fest an ihn. In der Küche ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, stütze ihren Kopf auf die Hände und sagte: Ich tu seit Tagen kein Auge zu. Sie sind überall. Überall
„Wer?“ fragte Eberhard.
„Meine Alpträume, Ebi. Ich sehe nachts leuchtende Viren überall durch mein Schlafzimmer fliegen. Mit jedem Atemzug befallen sie meine Lunge und machen mich krank. Ich habe den Zwang, die Luft anzuhalten bis mir schwarz vor Augen wird. Ich dachte erst, es sei nur ein bisschen Stress. Aber gerade eben, da hatte ich wirklich den Eindruck, ich würde den Verstand verlieren
„Ellen“, sagte Eberhard erschrocken, „du brauchst Hilfe. Ich bring dich jetzt sofort in eine Klinik.”
“Nein”, rief sie, keine Ärzte. Ich glaube, ich brauche jetzt einfach nur einen guten Freund, dem ich mich anvertrauen kann.”
“Dann ist also doch etwas dran an dem geheimen Virenlabor?”
“Aber nein, quatsch, das ist es doch gerade! Es gibt keine Viren. Kein Geheimdienst. Keine Labore. Alles erfunden.“
Ellen schaute beschämt zu Boden: „Der Verlag wollte mein Manuskript zuerst nicht annehmen. Der Plot sei zu banal, die Personen zu klischeehaft. Doch dann hatte die Verlegerin eine Idee. Um dem Roman mehr Traction zu geben, könnte man ja zweideutige Informationen streuen. Man könnte andeuten, dass PANDEMIE auf echten Geheimdienstinfos basiert. Dazu bräuchte ich mich selbst gar nicht äußern. Die Gerüchte würde Verlag streuen. Ich bräuchte nur die Luft anzuhalten und zu schweigen. Wenn der Roman dann einmal erfolgreich etabliert ist, könnte ich dann zurückrudern und behaupten, dass alles auf Missverständnissen beruht.
„Geniale Idee!, rief Eberharf aufgebacht. Die Öffentlichkeit verrückt machen und dafür in die Bestseller-Listen aufsteigen. Bravo, Ellen!”
„Ich weiß doch, dass falsch war. Aber jetzt ist es auch irgendwie zu spät. Ich hab eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben. Wenn ich auspacke, verliere ich jeden Cent – und meinen Ruf als Autorin.“
Eberhard war wütend auf seine Freundin, aber sie tat ihm auch leid. 
Er brachte ihr Schlaftabletten: “Jetzt nimm erst mal zwei davon. Das killt alle Viren-Träume und du kannst ausschlafen. Morgen kannst du mit klarem Kopf dann vielleicht bessere Entscheidungen treffen.
Ellen ging.
Eberhard tat kein Auge zu. Er schrieb einen Brief, den er im Morgengrauen unter Ellens Wohnungstür hindurch schob.



Text aus dem Clip: Liebe Ellen, hab ich dir jemals vom Schicksal meiner Großmutter und ihrer Schwester in den letzten Kriegstagen erzählt? Meine Oma Martha war damals zwölf, ihre Schwester Sieglind acht Jahre alt. Mein Urgroßvater Kurt war überzeugter Nazi. Als in den letzten Kriegsmonaten klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren würde hat er den Verstand verloren und verstieg sich in finstere Phantasien. Während der Luftangriffe saß er mit den beiden Mädchen im Luftschutzkeller und erzählte ihnen Schauergeschichten über das, was da draußen gerade vor sich ging. Dass in den Bomben der Alliierten tödliches Giftgas wäre. Dass das Gas den deutschen, arischen Körper in Sekundenschnelle zerfräße, bis den Menschen die Hautfetzen in großen eitrigen Lappen von den blanken Knochen fielen. Er bestand darauf, dass seine Töchter im Luftschutzkeller Gasmasken trugen und dass sie nach einem Angriff auf keinen Fall auf die Straße laufen sollten. 


Und dann kam der nächste Luftangriff. Martha und Sieglind waren alleine zu Hause und liefen in den Luftschutzkeller. Dabei vergaßen sie ihre Masken. Als eine Bombe ins Haus fiel und die Decke des Kellers einzustürzen drohte, da wollte Martha ihre Schwester nach draußen ziehen. Aber die wehrte sich. “Da ist doch das Gas, hat Vati gesagt! Wir haben keine Masken”, rief sie und verharrte im Keller, wo ihr nur wenige Sekunden später ein Balken auf den Kopf fiel. Sie war sofort tot. Meine Oma aber, die konnte ins Freie fliehen und überlebte.
Erst sehr viel später wurde ihr klar, dass ihre kleine Schwester nicht durch den Luftangriff der Amerikaner ums Leben kam, sondern durch die wahnhaften Vorstellungen, die ihnen der Vater in den Kopf gesetzt hatte.
In tiefer Freundschaft
Dein Eberhard.

Duja Halali: „Willkommen im ZDF Morgenmagazin. Heute haben wir einen ganz besonderen Gast! Ellen Stein. Ihr Debütroman PANDEMIE führt seit Wochen die Bestsellerlisten an– ein Thriller, der nicht nur wegen seiner packenden Handlung für Aufsehen sorgt, sondern auch, weil der Verlag durchblicken ließ, das Buch sei nicht rein fiktiv. Ellen Stein selbst hat sich selbst dazu nicht geäußert. Doch heute, so kündigte sie es bereits gestern auf Instagram an, will sie heute und hier im ZDF „ihrer Seele Luft machen. Herzlich willkommen, Frau Stein!“

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Jörg Olvermann
Jörg Olvermann ist in München geboren und aufgewachsen. Seit den frühen 90er Jahren lebt er in Berlin. Neben seinem Job im Marketing ist Schreiben seine große Leidenschaft. Nach einer Weiterbildung ist er außerdem als Systemischer Coach tätig.